2. Die philosophische Antwort
Psychische Störungen imponieren dadurch, dass das „normale“ kognitive oder emotionale Verhältnis der Menschen zur Welt gestört ist. Aber solche Störungen sind bei vielen Menschen zu beobachten, die gemeinhin nicht als „psychisch gestört“ gelten. Im schlimmsten Fall werden unbequeme Störenfriede sogar zu Unrecht psychiatrisiert, man erinnere sich an die Frankfurter Steuerfahnder-Affäre. Und was ist schon „normal“? Euphorisierte Fußballfans außer Rand und Band wird man nicht gleich als „psychisch gestört“ bezeichnen, und wer beim Oktoberfest zu sehr über die Stränge geschlagen hat, wacht vielleicht mit der Diagnose F10.0 „Akute Alkoholintoxikation“ im Krankenhaus auf, aber ist er „psychisch gestört“, nur weil seine normalen psychischen Funktionen erheblich gestört sind? Das „normale Funktionieren“ ist möglicherweise ein gutes Kriterium für psychische Gesundheit, aber seltsamerweise ist nicht normales Funktionieren nicht unbedingt ein gutes Kriterium dafür, was wir intuitiv als „psychische Störung“ ansehen.
Ob man vielleicht in 100 Jahren gar nicht mehr von „psychischen Störungen“ spricht, weil man sie alle entsprechend ihrer physiologischen Basis einsortiert hat? Aus den Geisteskrankheiten wären dann Geisterkrankheiten geworden. Für die Entstigmatisierung dieser Störungen wäre das vielleicht nicht das Schlechteste. Oder wird man die psychischen Störungen doch eines Tages als wesensmäßige Beeinträchtigung dessen fassen, was den Kern des Menschseins ausmacht: Dass wir mit uns, unseren Mitmenschen und unserer Umwelt vernünftig umgehen können?
Zum Weiterlesen:
Schramme T (Hrsg.): Krankheitstheorien. Frankfurt 2012. Der Herausgeber ist Professor für Praktische Philosophie an der Uni Hamburg. Das Buch enthält zwei Beiträge über psychische Störungen und macht außerdem darauf aufmerksam, dass wir auch jenseits der psychischen Störungen nicht wirklich wissen, was wir mit „Krankheit“ meinen.
Heinz A: Der Begriff der psychischen Krankheit. Frankfurt 2014. Der Autor, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin, kommt am Ende seines Buches ziemlich in die Nähe meiner Schlussfrage.
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