Am Mittwoch hat das bayerische Gesundheitsministerium einen Bericht zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Bayern veröffentlicht. Darin kann man unter anderem lesen, dass im Jahr 2014 etwa ein Viertel der Heranwachsenden eine ambulante Diagnose aus der ICD-Hauptgruppe F00-F99 „Psychische und Verhaltensstörungen“ hatte. Für Deutschland insgesamt kommt der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) des Robert Koch-Instituts in der Größenordnung zu vergleichbaren Zahlen: 20,2 % der Unter-18-Jährigen sind demnach „psychisch auffällig“. Grundlage bei KiGGS sind nicht ärztliche Diagnosen, sondern Selbstangaben der Eltern bzw. der Heranwachsenden im „Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ)“, einem bewährten Screening-Instrument für solche Zwecke.
Viele Leute sind ziemlich irritiert, wenn sie diese „hohen“ Zahlen zum ersten Mal hören. Sie denken vermutlich spontan an „Geisteskrankheiten“ und vielleicht hat mancher auch noch Bilder der alten „Irrenanstalten“ vor Augen. Aber natürlich ist nicht ein Fünftel bis ein Viertel der Heranwachsenden „geisteskrank“, „irre“ oder gehört in die „Anstalt“. Das könnte man schon daran sehen, dass die ICD-Hauptgruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ ein sehr breites Spektrum an Störungsbildern unterschiedlicher Schwere umfasst. Beispielsweise gehören die Entwicklungsstörungen (ICD: F80-F89) dazu, Sprachentwicklungsstörungen oder Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten etwa, ebenso wie Alkoholmissbrauch, ADHS, Zwänge oder Angststörungen. Dass noch viel mehr Heranwachsende im Laufe eines Jahres eine Diagnose aufgrund einer körperlichen Störung haben, reißt dagegen keinen aus dem Sofa. Zum einen weiß da jeder, dass es hier um viele unterschiedliche und mitunter auch vergleichsweise harmlose Beschwerden geht. Zum anderen sind – vielleicht von Krebs und Geschlechtskrankheiten abgesehen – körperliche Erkrankungen weniger tabubehaftet. Ein Kennzeichen der „psychischen Störungen“ ist nach wie vor ihre Tabuisierung, es sind in der öffentlichen Wahrnehmung „ausgrenzende Krankheiten“.
Von „psychischen Störungen“ spricht man übrigens seit längerem deswegen, weil der Begriff der „Krankheit“ in diesem Kontext so schwierig ist und oft nicht klar ist, ob man es wirklich mit ätiologisch klar abgrenzbaren „Krankheitsentitäten“ zu tun hat. Daher hat man sich auf Symptomkomplexe zurückgezogen.
Aber um was handelt es sich dann bei diesen seltsamen „psychischen Störungen“ eigentlich? Darauf kann man zwei Arten unbefriedigender Antworten geben, eine lapidare und eine sich ins Philosophische verflüchtigende.
1. Die lapidare Antwort
Sie besteht darin, festzustellen, dass es eben eine ICD-Hauptgruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ gibt, das „F-Kapitel“ in der ICD. Man darf dann nur nicht weiterfragen, sonst sticht das Unbefriedigende der Antwort sofort ins Auge. Nach dem F-Kapitel kommt nämlich das G-Kapitel, die „Krankheiten des Nervensystems“. Davon betreffen nicht wenige das Gehirn, also die „Hardware“ der Psyche und manche der bei den G-Diagnosen einsortierten Störungen beeinträchtigen die psychische Befindlichkeit ganz extrem. Andere Gehirnerkrankungen übrigens auch, z.B. der Schlaganfall. Der wird aber wiederum unter I 63 oder I 64 codiert, in der ICD-Hauptgruppe „Krankheiten des Kreislaufsystems“. Mit Blick auf die Ursache hat man das Gefühl, dass der Schlaganfall dort auch richtig einsortiert ist, aber ist es logisch, hier nach der Ursache, in anderen Fällen nach der Symptomatik zu klassifizieren? Nach der Logik könnte man dann die Tic-Störungen, z.B. das Tourette-Syndrom, unter die Krankheiten des Nervensystems subsumieren: Es handelt sich um sog. extrapyramidale Hyperkinesien, die sich in unwillkürlichen Muskelkontraktionen oder Lautäußerungen bemerkbar machen. Manche Kommentare in Blogs gehören vermutlich dazu. Tic-Störungen sind aber unter F95 klassifiziert, also unter den psychischen Störungen. Oder ein anderes Beispiel: Eine Hirnhautentzündung ordnet man intuitiv nicht als „psychische Störung“ ein, aber was ist z.B. mit klinisch eindeutigen Zwangsstörungen als Folge einer Streptokokken-Infektion (die sog. PANDAS)? Ist das eine Infektionskrankheit oder eine psychische Störung? Oder eine Infektionskrankheit mit einer psychischen Störung als Folge? Aber welche psychische Störung hat keine physiologische Grundlage? Die psychischen Störungen können ja nicht als diejenigen Störungen definiert werden, die keine körperlichen Ursachen haben, denn „Geisteskrankheiten“ in dem Sinne, dass da ein „Geist“ ohne biologisches Substrat erkrankt ist, gibt es nicht. Alle psychischen Störungen haben notwendigerweise physiologische Korrelate. In der ICD haben die PANDAS übrigens noch keinen Platz gefunden und die normale Streptokokkenmeningitis wird als G00.2 unter den „Krankheiten des Nervensystems“ geführt, nicht unter den Infektionskrankheiten. Nur noch am Rande sei angemerkt, dass die Gruppe „Psychische und Verhaltensstörungen“ natürlich auch nicht alle verhaltensbedingten Krankheiten umfasst, sonst müsste man z.B. den Typ-2-Diabetes bei den psychischen Störungen einsortieren. Was sich da in der ICD-F-Gruppe versammelt, beruht letztlich auf Konvention plus einer gewissen Plausibilität, nicht auf einer medizintheoretisch gesicherten Basis.
2. Die philosophische Antwort
Psychische Störungen imponieren dadurch, dass das „normale“ kognitive oder emotionale Verhältnis der Menschen zur Welt gestört ist. Aber solche Störungen sind bei vielen Menschen zu beobachten, die gemeinhin nicht als „psychisch gestört“ gelten. Im schlimmsten Fall werden unbequeme Störenfriede sogar zu Unrecht psychiatrisiert, man erinnere sich an die Frankfurter Steuerfahnder-Affäre. Und was ist schon „normal“? Euphorisierte Fußballfans außer Rand und Band wird man nicht gleich als „psychisch gestört“ bezeichnen, und wer beim Oktoberfest zu sehr über die Stränge geschlagen hat, wacht vielleicht mit der Diagnose F10.0 „Akute Alkoholintoxikation“ im Krankenhaus auf, aber ist er „psychisch gestört“, nur weil seine normalen psychischen Funktionen erheblich gestört sind? Das „normale Funktionieren“ ist möglicherweise ein gutes Kriterium für psychische Gesundheit, aber seltsamerweise ist nicht normales Funktionieren nicht unbedingt ein gutes Kriterium dafür, was wir intuitiv als „psychische Störung“ ansehen.
Ob man vielleicht in 100 Jahren gar nicht mehr von „psychischen Störungen“ spricht, weil man sie alle entsprechend ihrer physiologischen Basis einsortiert hat? Aus den Geisteskrankheiten wären dann Geisterkrankheiten geworden. Für die Entstigmatisierung dieser Störungen wäre das vielleicht nicht das Schlechteste. Oder wird man die psychischen Störungen doch eines Tages als wesensmäßige Beeinträchtigung dessen fassen, was den Kern des Menschseins ausmacht: Dass wir mit uns, unseren Mitmenschen und unserer Umwelt vernünftig umgehen können?
Zum Weiterlesen:
Schramme T (Hrsg.): Krankheitstheorien. Frankfurt 2012. Der Herausgeber ist Professor für Praktische Philosophie an der Uni Hamburg. Das Buch enthält zwei Beiträge über psychische Störungen und macht außerdem darauf aufmerksam, dass wir auch jenseits der psychischen Störungen nicht wirklich wissen, was wir mit „Krankheit“ meinen.
Heinz A: Der Begriff der psychischen Krankheit. Frankfurt 2014. Der Autor, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte in Berlin, kommt am Ende seines Buches ziemlich in die Nähe meiner Schlussfrage.
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