„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, in allen Lüften hallt es wie Geschrei“, schrieb Jakob van Hoddis vor gut 100 Jahren in seinem Gedicht „Weltende“, als sich eine neue Zeit Bahn brach. Was diese neue Zeit bringen würde, war unklar. Das Gedicht van Hoddis‘ scheint auch gut in die heutige Zeit zu passen.
Die Nachkriegsordnung gärt. Vor einem Vierteljahrhundert ist der Ostblock ökonomisch und moralisch abgewirtschaftet zerbrochen, seit einigen Jahren versinkt der Nahe Osten im Chaos und nun rumort es auch im Westen. Alte gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten lösen sich auf. Die Leute sind unzufrieden mit dem, was „die da oben“ machen, egal ob es ihnen selbst gut geht oder nicht. Sie vertrauen den gewohnten politischen Sprechblasen nicht mehr. Aber sie wissen auch nicht so recht, was „die da oben“ konkret anders machen sollen und was sie wollen. Noch mehr Fernsehprogramme mit Mario Barth und Carmen Nebel? Noch einen Fussball-Cup, vielleicht eine Mitteleuropa-Meisterschaft? Selbstfahrende Autos oder lieber Smartphones, die intelligenter sind als ihre Besitzer?
Anomie ist die Stunde der Populisten. Sie tun so, als ob sie dem Volk eine Stimme geben, sie schaffen Bühnen des Protests und – sehr wichtig – Sündenböcke. Bei uns sind das im Moment die Flüchtlinge. Zukunftsfähige Antworten müssen die Populisten ja in der Regel nicht geben, zumindest keine Antworten, von denen viel abhängt. Ob in der Schweiz Minarette gebaut werden oder nicht, macht die Butter nicht teurer und nicht billiger. Anders sieht es beim Brexit aus. Diesmal haben die Populisten eine Entscheidung herbeigeführt, die – je nachdem, wie es jetzt weitergeht – tatsächlich den Alltag vieler Menschen betreffen könnte.
In den Medien ist viel die Rede vom „Kater nach dem Rausch“ des Brexit. Und was kommt nach dem Kater? Zum einen halte ich es für durchaus möglich, dass der Brexit in Europa dem Populismus nicht noch mehr Rückenwind verschafft, wie man es oft liest, sondern ihm im Gegenteil einen erheblichen Dämpfer verpassen könnte – eben weil jetzt einmal eine populistische Forderung mit gravierenden politischen Folgen Wirklichkeit wird. Die emotionale Katharsis, die man sich hier gegönnt hat, hat ihren Preis und macht vielleicht die Butter tatsächlich teurer, den Kurssturz des Pfunds und Moody’s Drohung mit einer Herabstufung der Kreditwürdigkeit Großbritanniens mag man als Wetterleuchten der Rechnung sehen, die da noch präsentiert werden könnte. Die Leute hätten dann zumindest die Chance zu sehen, wohin zu einfache Antworten führen. Zum andern wäre Freude über einen solchen Offenbarungseid des Populismus verfehlt, weil „politische Pädagogik“ nicht auf dem Rücken der Menschen vorgeführt werden soll – und vor allem, weil die Missstände, die die Leute ja zu Recht beklagen, deswegen nicht weg wären. Dass „die da oben“ zu wenig auf „die da unten“ achten, stimmt schließlich. Wenn „oben“ und „unten“ zu weit auseinandertriften, kann es nicht mehr weitergehen wie bisher. Nur, wie soll es dann weitergehen?
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