Psychische Störungen sind eine der großen – und lange Zeit unterschätzten – Herausforderungen für das Gesundheitswesen. Ein Drittel der Bevölkerung leidet im Laufe eines Jahres einmal an einer klinisch relevanten psychischen Störung. Mehrfach war hier auf Gesundheits-Check die Zunahme der Fälle mit psychischen Störungen im Versorgungssystem Thema. Studien zeigen zwar, dass psychische Störungen wohl nicht zunehmen, dass sie aber häufiger diagnostiziert werden, wobei nach wie vor auch schwere psychische Störungen zu spät und zu selten diagnostiziert und adäquat behandelt werden. Der Anstieg der diagnostizierten Fälle ist an sich eine positive Entwicklung, weil so unnötiges Leid und in nicht wenigen Fällen auch die Chronifizierung der Störungen vermieden werden kann. Die Kehrseite sind lange Wartezeiten auf ein Erstgespräch und auf einen Therapieplatz in der Psychotherapie. Zwar hat auch die Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten in den letzten Jahren erheblich zugenommen – in ambulanten Einrichtungen von ca. 22.000 im Jahr 2006 auf ca. 32.000 im Jahr 2014 (was wiederum dazu beiträgt, dass mehr Diagnosen gestellt werden können), aber das Behandlungsangebot deckt den Bedarf derzeit nicht ab.

Die Engpässe im ambulanten Bereich führen dabei möglicherweise auch zu einer vermehrten Inanspruchnahme stationärer Behandlungsressourcen, die ebenfalls knapp sind. Im Jahr 2014 gab es in Deutschland ca. 1,2 Mio. stationäre Behandlungen infolge von psychischen Störungen, 35 % mehr als im Jahr 2000. Nach einer Studie der LMU München ist davon auszugehen, dass ein Teil davon durch eine bessere bzw. besser koordinierte ambulante Versorgung vermeidbar wäre, bei Depressionen oder Suchtproblemen z.B. bis zu 70 % der Krankenhausfälle.

Psyche_Krankenhausfälle

Die Politik hat sich des Problems angenommen. Derzeit werden die Psychotherapierichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses überarbeitet. Diese Richtlinien legen rechtsverbindlich fest, wie psychische Störungen im ambulanten Bereich zu versorgen sind. Ein Punkt der Reform besteht darin, dass die Patienten vor einer Therapie künftig eine Erstsprechstunde bei einem Psychotherapeuten nachweisen müssen, es sei denn, sie kommen aus einem Krankenhaus oder einer Reha-Einrichtung. Das klingt erst einmal gut, weil so der Therapiebedarf geklärt werden kann. Nicht jedes psychische Problem muss psychotherapeutisch behandelt werden (auch wenn das berühmte Bier, das der G-BA-Vorsitzende Herr Hecken einmal vorschlug, nicht unbedingt die richtige Alternative ist). Und wenn sich dann ergibt, dass eine Therapie notwendig ist, kann schon der Weg zum richtigen Therapieangebot vorgebahnt werden, andernfalls zu anderen Hilfemöglichkeiten.

Wie so oft liegen die Tücken des Gutgemeinten im Detail. So sieht der Richtlinienentwurf beispielsweise vor, dass das Ergebnis der Bedarfsabklärung für die Patienten schriftlich festgehalten wird. Das bedeutet aber, dass die Psychotherapeuten zu einem sehr frühen Zeitpunkt und auf der Basis eines ersten Eindrucks eine weitreichende Krankheitszuschreibung vornehmen müssen, die für die Patienten möglicherweise in anderen Zusammenhängen, z.B. beim Abschluss einer privaten Kranken- oder Berufsunfähigkeitsversicherung, nachteilig sein kann. Würde der Psychotherapeut das vermeiden wollen, wäre möglicherweise wiederum die Dringlichkeit einer Psychotherapie nicht begründet. Ob sich da noch eine bessere Lösung findet?

Für die Psychotherapeuten ist es übrigens nicht Pflicht, eine Sprechstunde anzubieten, was einerseits sinnvoll ist, um Behandlungskapazitäten nicht weiter einzuschränken, andererseits zu Engpässen gerade beim Angebot an Sprechstunden führen könnte. Hier wären möglicherweise andere Clearingverfahren, z.B. über diagnostisch spezialisierte Einrichtungen, sinnvoller.

Nach der Sprechstunde folgen, wenn eine Therapie notwendig und ein Therapeut gefunden ist, sog. „probatorische Sitzungen“. Sie dienen zur Beantragung der eigentlichen Psychotherapie bei der Krankenkasse. Mit Beginn der Psychotherapie sind die Therapeuten künftig gehalten, einen Dokumentationsbogen auszufüllen, der sehr weitreichende und potentiell auch diskriminierende Daten erhebt. So soll bei Kindern und Jugendlichen beispielsweise angegeben werden, ob „abnorme intrafamiliäre Beziehungen“, „abnorme Erziehungsbedingungen“ oder eine „abnorme unmittelbare Umgebung“ vorliegen. Man ahnt die Begeisterung der Eltern bei diesen Fragen. Zudem soll bei den Kindern im Dokumentationsbogen routinemäßig auch der Intelligenzquotient erhoben werden, obwohl das bei vielen Störungsbildern eigentlich nicht nötig ist. Man fragt sich, ob diese „Vorratsdatenspeicherung“ wirklich in jedem Punkt sein muss, ob man die Missbrauchsrisiken geprüft hat und wie sie ggf. zu minimieren wären.

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Kommentare (8)

  1. #1 KJP
    9. August 2016

    “einerseits sinnvoll ist, um Behandlungskapazitäten nicht weiter einzuschränken”: abgesehen von dem quantitativen Aspekt stellt sich auch die Frage, ob wir als Psychotherapeuten die Richtigen sind, um Verteilungsfunktionen im Gesundheitswesen zu übernehmen. Unser “Kerngeschäft” ist Psychotherapie und nicht die Zuweisung von Patienten zu unterschiedlichen Therapeuten und anderen Hilfsangeboten.

    Dies sieht z.B. auch die Ostdeutsche Psychotherapeutenkammer so:
    https://opk-magazin.de/wp-content/uploads/sites/2/2016/08/Beanstandung-RiLi-OPK-29072016-1.pdf?c160c6

  2. #2 Kathrin S.
    12. August 2016

    Zur Abklärung des Therapiebedarfs wären doch eher unabhängige Stellen sinnvoll. Die könnten ja ohnehin helfen, sich bei den Therapieangeboten zu orientieren. Die meisten Menschen haben keine Vorstellung davon, was in einzelnen Therapieformen passiert, welche bei welcher Form der Erkrankung sinnvoll ist und auf welche sie sich einlassen wollen. Auch Informationen über Verlauf, Dauer, Voraussetzungen und Kriterien für die Auswahl der Therapeuten wären sinnvoll. In manchen Städten gibt es solche Anlaufstellen auf Initive einzelner Therapeuten. Dies ist nicht das, was sich die Krankenkassen vorstellen.
    Wenn ein tatsächlicher Bedarf besteht und es zu einer Therapie kommt, ist die Diagnose in den Unterlagen. Kommt es zu keiner Therapie bleiben die Informtionen bei der Bratungsstelle.

  3. #3 KJP
    13. August 2016

    Die mögliche Gefahr, dass die Schweigepflicht ausgehebelt wird, wird zur Zeit vor dem Hintergrund einer Gefährdung der Bevölkerung durch psychisch Kranke diskutiert, z.B. im Editorial des aktuellen Ärzteblatts PP:
    https://www.aerzteblatt.de/pdf/PP/15/8/s337.pdf

    Eine hohe Bedeutung kommt der Vertraulichkeit bereits in der Erstsprechstunde zu. Daher muss der Umgang mit den dort erhobenen Daten gut überlegt werden.

  4. #5 Randifan
    13. August 2016

    Im Grunde könnte 90 % der Bevölkerung für psychisch krank erklärt werden, so wage klingen die Diagnosen.

  5. #6 Dennis
    Sarstedt
    13. September 2016

    Guten Tag!

    Interessanter Artikel… Hoffen wir mal, dass sich auch wirklich etwas tut. Denn ich habe das Gefühl, dass die Versorgungslage immer schlechter wird. Auch ich habe mich vor etwa sechs Monaten nach einem Therapieplatz umgesehen. Die meisten Antworten waren; Leider nehmen wir keine neuen Patienten auf. Unsere Wartelisten sind einfach viel zu lang.
    Bei zwei Therapeuten wurde ich auf die Warteliste gesetzt. Wartezeit mindestens sechs Monate…

    Ich denke schon, dass sich dadurch bei vielen Betroffenen der Gesundheitszustand verschlechtert und somit immer mehr auf eine Kur-Klinik bzw. in eine stationäre Therapie gehen. Einfach, weil es oft nicht mehr geht!

    Genau aus diesem Grund sind auch die Arbeitgeber in Deutschland gefordert! Es muss sich etwas ändern. Nicht umsont haben die psychischen Leiden in den letzten Jahren so stark zugenommen! Diesem wichtigen Thema nehme ich mich auch hin und wieder auf meiner Webseite http://www.depressiv-leben.de an. Es wird einfach Zeit, dass etwas passiert und nicht wie so oft, nur erzählt wird!

    Viele Grüße!
    Dennis

  6. #7 demolog
    21. Oktober 2016

    Mich stört am meisten an der derzeitigen Grundstrategie zur Behandlung psychischer Störungen, dass eine massive Tendenz zur “Ambulantisierung” besteht. Möglichst alles soll mehr ambulant anstatt stationär gelöst werden.

    Dabei wird übersehen, dass viele Probleme daher entstehen oder verschlimmert werden, weil der Patient schlicht einsam ist. Kein soziales Umfeld hat und dadurch sich die Prognose noch verschlechtert.

    Meine Idee wäre, dass man recht große Psychiatriezentren vorsieht, in der gewohnt wird und auch Möglichkeiten zur sportlichen und anderen Betätigung vorgesehen sind. Dazu müssten vielleicht die Psychiatrien von den Bezirkskliniken getrennt werden, weil diese meist nicht genug Platz haben, um solche Szenarien zu verwirklichen.

    Und was ich kaum verstehen kann, ist, dass bekannt ist, dass die Diagnosen steigen, aber gesagt wird, dass die Störungen nicht wirklich zugenommen haben. Was, bitteschön, ist das beste Anzeichen dafür, dass Störungen steigen? Eben, die Diagnose. Was sonst.

    Mag sein, dass ein Teil der Steigerung tatsächlich dadurch entsteht, dass die Patienten sensibler werden oder das Ärzte- und Diagnoseangebot auch steigen, sodass Kapazitäten eine Steigerung ermöglichen. Das kann man aber zurückhaltener hineinrechnen, anstatt überzeugt zu erklären, alles liege nur an diesem einen Ding.
    Ich glaube das auch gar nicht. Absolut nicht. Es gibt hinweise, das ganz konkrete Bedingungen für eine Steigerung der Diagnosen verantwortlich sind – diese aber nicht der üblichen Erklärung entsprechen, sondern echte zusätzliche “Neustörungen” seien.

  7. #8 demolog
    21. Oktober 2016

    @ Kathrin S. #2

    Die Informationen können doch auch auf Papier dem Patienten mitgegeben werden, sodass sie nirgends gespeichert sind, oder?