Im Frühtau zu Berge wir gehen …
Der “March for Science” ist gerade in aller Munde. Auch hier auf Scienceblogs und nebenan bei den Skeptikern wird er fleißig beworben. Dagegen ist nichts einzuwenden, schon gar nicht, wenn die Freiheit von Forschung und Lehre gegen politische Einflussnahme verteidigt wird. Allerdings würde es nicht schaden, dabei auch daran zu denken, dass nicht nur die Trumps, Orbáns und Erdogans die Wissenschaft gerne nach ihrem Bilde formen würden, sondern dass das natürlich auch in demokratischen Normalbetriebsländern geschieht. Pharmaforschung wird beispielsweise fast nur durch die Pharmaindustrie finanziert, mit entsprechenden Chancen, dass erforscht wird, was Profit bringt. Über die Einflussnahme der Tabakindustrie auf die Forschung muss man wohl kein Wort mehr verlieren – das war übrigens keinem einen „March for Science“ wert. Und dass an den Hochschulen blüht, was Drittmittel bringt, ist auch kein Geheimnis. Wo sind sie hin, die Lehrstühle für Sozialpolitik? Abgelöst durch Ökonometriefachleute. Die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften dümpeln vor sich hin und ich fürchte, mancher der marschierenden Wissenschaftsverteidiger hält diese Art Wissenschaft ohnehin für überflüssig. Die Sozialpsychiatrie ist gewissermaßen weggesperrt, die Arbeitsmedizin trocknet aus, und dass es in Deutschland nicht eine Professur gibt, die sich mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und seinen Aufgaben beschäftigt, weiß vermutlich kaum jemand. All das hat wenig Aufsehen erregt. Jetzt kommen die drei Autokraten dem akademischen Mainstream in die Quere, immerhin das provoziert ein wenig Unruhe.

… um auch mal nach dem Orchideenfach Public Health zu sehen?
Noch so ein in der Praxis wie in der Wissenschaft vor sich hin kümmerndes Feld ist die Bevölkerungsgesundheit, „Public Health“ auf Nichtmehrganzneudeutsch. Vor fast zwei Jahren hatten wir hier auf Gesundheits-Check über die Stellungnahme „Public Health in Deutschland“ der Wissenschaftsakademien unter Federführung der Leopoldina diskutiert. Daraus hat sich ein Selbstverständigungsprozess entwickelt, der zunächst zu einem White Paper geführt hat – das war vor einem dreiviertel Jahr hier Thema, dann zu einem Zukunftsforum mit Geschäftsstelle beim Robert Koch-Institut und jetzt gibt es mit Blick die kommende Bundestagswahl außerdem noch ein an die Politik adressiertes Positionspapier:

Durch Stärkung der Öffentlichen Gesundheit (Public Health) zu verbesserter Bevölkerungsgesundheit und einer gerechteren Gesellschaft
Positionspapier des Zukunftsforums Public Health

Öffentliche Gesundheit (Public Health) identifiziert gefährdende und fördernde Einflüsse auf die Bevölkerungsgesundheit und setzt dieses Wissen zu deren Schutz und Verbesserung ein. Einer der größten Risikofaktoren für unzureichende Gesundheit ist soziale Ungleichheit. Politiker haben eine besondere Verantwortung für die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen und sozialer Chancengleichheit. Diese fördern nicht nur die Gesundheit, sondern auch die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung. Durch die Förderung der Gesundheit wird die Teilhabe benachteiligter Menschen an der Gesellschaft gestärkt.

Als Expertinnen und Experten für Öffentliche Gesundheit (Public Health) leiten wir aus unseren Erkenntnissen folgende Forderungen an die politischen Parteien ab:

1. Auch wenn jeder Mensch viel für die eigene Gesundheit tun kann, so sind doch wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen entscheidend für die Gesundheit der Bevölkerung. Politische Entscheidungsträger gestalten diese Rahmenbedingungen durch die Schaffung gesetzlicher Grundlagen, die Bereitstellung objektiver und verlässlicher Informationen und die Gestaltung von Infrastruktur wesentlich mit. Die Gesundheit der Bevölkerung ist ein wichtiges Ziel von Politik. Wissenschaftliche Evidenz und Transparenz müssen dabei die Grundlage des politischen Handelns sein.

2. Die Gesundheit der Menschen, die Wirtschaft und die Umwelt sind untrennbar miteinander verbunden. Gute Luft, sauberes Wasser, gesunde Ernährung und bewegungsfördernde Lebensräume sind ebenso wichtig für die Gesundheit in jedem Lebensalter wie Bildung, Arbeit und Wohlstand. Gesunde Menschen sind die Voraussetzung für eine gesunde Wirtschaft – und umgekehrt. Politik muss systematisch die Auswirkungen von Entscheidungen auf Gesundheit berücksichtigen (Health in all Policies).

3. In Armut lebende Menschen haben ein höheres Risiko zu erkranken und vorzeitig zu sterben. Soziale Ungerechtigkeit beeinträchtigt die Gesundheit und führt zu Konflikten in der Gesellschaft. Die Beseitigung von Armut und Ungerechtigkeit ist außerordentlich wichtig für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Gesundheit gesellschaftlich Benachteiligter muss verbessert und ihre Teilhabe an der Gesellschaft gefördert werden. Dies trägt dazu bei, gesellschaftliche Konflikte und Extremismus einzudämmen.

4. Was für unsere Gesundheit wichtig ist, gilt auch für Globale Gesundheit. Wir lernen das Gleiche immer wieder: Soziale Ungerechtigkeiten, Zerstörung der Umwelt und strukturelle Gewalt führen zu (internationalen) Konflikten und Gesundheitsproblemen. Diese bleiben nicht auf einzelne Länder begrenzt. Die wissenschaftliche Evidenz für den Klimawandel ist eindeutig. Auswirkungen sind heute schon spürbar. Sie bedrohen bereits in diesem Jahrhundert Sicherheit, Wirtschaft und Gesundheit national und global. Deutschland muss international Verantwortung übernehmen, sich für Chancengleichheit einsetzen, Diskriminierung abbauen, funktionierende Gesundheitssysteme stärken und eine führende Rolle bei der Eindämmung des Klimawandels einnehmen.

Um das Ziel zu erreichen, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen, zu verbessern und Ungleichheiten zu verringern, kann und muss die Politik auf das Potential von Public Health zugreifen. Gleichzeitig muss dieses Potential gestärkt und weiter entwickelt werden, in Strukturen, in Handlungsspielräumen, in Personalentwicklungen. Wenn Politik und Public Health Hand in Hand gehen, kann es gelingen. Wir stehen bereit und haben unser Programm in einem „White Paper Public Health“ zusammengefasst. Kontaktieren Sie uns!

Geschäftsstelle Zukunftsforum Public Health
zukunftsforum@rki.de, www.zukunftsforum-public-health.de

Ob es auch mal einen March for Public Health gibt? Wichtig genug wären die Themen ja, für die Wissenschaft wie für das Land.

Kommentare (17)

  1. #1 rolak
    21. April 2017

    Science? Public Health!

    Morgen weder noch, Joseph, lokal geht vor. Und um mittags herum wirds noch lokaler: Umzug, um im Rahmen eines Umzuges wie schon vor lange versprochen eine Küche auf- und einzubauen. Manchmal knubbelt es sich aber auch derart
    Also eher

    Im Frühtau zur Störchin wir ziehn, fallera

  2. #2 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    21. April 2017

    Einfach mal Danke für diesen Artikel. Es wäre schön, mehr Akademiker würden die Gelegenheit nutzen, und jetzt passende Kritik anbringen.

    Dann könnte man mit dem “March for Science” diesem Namen gerecht werden.

  3. #3 anderer Michael
    21. April 2017

    Rolak

    … und ” lokal “mit dabei DitiB und Milli Görüs. Viel Spaß mit denen. Hat Erdogan auch schon ein aufmunterndes Grußwort geschickt?

  4. #4 ralph
    21. April 2017

    Sorry, Ich hab die vorherigen Folgen der Serie wohl verpasst. Was hindert nochmal den Harz4 Empfänger sich gesund zu ernähren (wenig Fleisch viel Obst und Gemüse), sich viel zu bewegen, nicht zu Rauchen und negativen Stress zu vermeiden? Wer nimmt ihm die Chance dazu?

  5. #5 anderer Michael
    21. April 2017

    Herr Kuhn
    Ich habe ein Problem mit gesellschaftlich Benachteiligten . Wie werden diese Menschen definiert.? Geben wird es diese sicherlich z.B. Schulkinder , denen die Politik in Berlin und Bayern riesige Schulwege zumutet. Oder Kinder aus stark religiösen Familien, bei denen irgendein religiös Bild alles bestimmt. Oder Leute an vielbefahren Straßen. Das ist alles bekannt. Auch ohne public health.Der Wille etwas zu verändern fehlt.

  6. #6 anderer Michael
    21. April 2017

    Ralph
    Deine Frage ist berechtigt. Bis auf den Stress (Wohnumfeld, Kriminalität, Straßenlärm) kann ein AlgII Empfänger vieles problemlos umgehen. Und er/sie könnte mit seinen Kindern am Nachmittag ein Buch habe lesen oder basteln. Theoretisch jedenfalls.
    Als Hausmann sind mir die Preise bekannt . Für den Preis einer Zigarrenschachtel ist eine selbstgemachte Gemüsesuppe möglich ( sogar mit Biomöhren ).
    Die Mechanismen, warum Menschen abstürzen und dann in Antriebslosigkeit verharren , sind jedoch vielschichtig. So einfach , wie wir beide uns das vorstellen, ist es wahrscheinlich nicht.
    Ich bin und war schon mehrfach komplett ratlos vor einigen Schicksalen gestanden.

  7. #7 Joseph Kuhn
    21. April 2017

    @ ralph:

    “Was hindert nochmal den Harz4 Empfänger sich gesund zu ernähren”

    Gute Frage. Was hindert ihn wohl? Ob es dazu Studien gibt? Was meinen Sie?

    Und was hindert ihn erst daran, nicht an den vielbefahrenen Straßen zu wohnen, von denen “anderer Michael” spricht, oder seinen Kindern zu besseren Schulabschlüssen und damit besseren Jobs zu verhelfen, und so weiter. Fragen über Fragen.

    Wenn Sie morgen mitmarschieren, fragen Sie mal die Leute neben Ihnen. Vielleicht weiß ja einer, oder eine, was.

    @ anderer Michael:

    “Ich bin und war schon mehrfach komplett ratlos vor einigen Schicksalen gestanden.”

    Interessante Zeitkonstruktion des Satzes. Aber egal. Ob man weniger ratlos wäre, wenn die wissenschaftlichen Befunde aus dem Public Health-Bereich bekannter wären? Oder wenn das überhaupt jemand wirklich interessieren würde?

    Wenn Sie morgen mitmarschieren, fragen Sie mal die Leute neben Ihnen. Vielleicht weiß ja einer, oder eine, was.

  8. #8 DH
    21. April 2017

    Volle Zustimmung zu diesem Artikel!

  9. #9 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    21. April 2017

    @anderer Michael: ich geb Dir mal ein paar Beispiele für gesellschaftlich benachteiligte Menschen:

    – Menschen mit Behinderungen
    – Menschen mit chronischen Krankheiten
    – Menschen aus Elternhäusern mit sozialen Problemen
    – Menschen, die vor Krieg oder politischer Verfolgung flüchten oder vertrieben worden sind
    – Menschen mit PTBS oder anderen psychischen Störungen

  10. #10 anderer Michael
    21. April 2017

    Volker Birk
    Das sind Beispiele ,mit denen ich was anfangen kann . Der Begriff ” gesellschaftlich benachteiligt” suggeriert als sei es schuldhaft gesamtgesellschafter Konsens, diese Menschen aktiv zu benachteiligen.
    Beim Beispiel 3 liegt es zunächst eindeutig bei den Eltern. Bei Behinderungen wird in Deutschland sehr viel gemacht, aber eben nicht ausreichend oder falsch ( merkt man, wenn man als Begleitperson von Behinderten unterwegs ist). Bei chronische Erkrankungen oder überhaupt Krankheiten haben wir in Deutschland die Neigung, Gerechtigkeit in Form von Geld oder Bürokratie herzustellen. Das hilft den Erkrankten nur selten.Bei PTBS sind es fehlende Therapien, Flüchtlinge und Vertriebene haben als Ursache ihr Heimatland. Was können wir für die syrische Innenpolitik?
    Vielleicht ist es besser, einen anderen Begriff zu finden, der nicht ein gesellschaftliche Scheinkausalität hervorruft. Denn dann kommt berechtigt die Frage, was hindert einen sozial Schwachen eine Gemüsesuppe zu kochen oder nachmittags mit seinen Kindern ein Buch zu lesen. Vordergründig und wenn man auf Schuld und Sühne abstellt nämlich strenggenommen nichts. Nur so einfach ist auch nicht. In sozial schwachen Verhältnisse sieht man häufiger Resignation , Hoffnungslosigkeit und Inaktivität ( oder Kriminalität und Gewalt).
    Ob Public Health viel bringt oder doch eine irgendwie gerechte Verteilung der Güter, die die starken Erfolgreichen nicht benachteiligt und den Schwachen doch Perspektiven eröffnet?

  11. #11 tomtoo
    22. April 2017

    @ralph

    Provoziere an einem anderen Ort. Hier hast du keine Change. So schlaue die von Natur aus schlau geboren sind wie du, also solche die von ihrer Umwelt nicht geformt wurden ,sind dem durchschnittlichen Menschen einfach zu sehr überlegen. Schau mal auf der Page “IQ>180” nach. Da gibts Verständniss.

  12. #12 Manuel Rodriguez
    22. April 2017

    Vielleicht sollte man an dieser Stelle einmal darauf aufmerksam machen, dass Wissenschaft vor allem bedeutet, dass man Fehler machen darf. Das beste Physik-Experiment ist jenes, was nicht funktioniert. Wo also ein 9 jähriger Bub versucht eine Trockeneis-Rakete zu bauen, dabei natürlich auch Alkohol verwendet, was er eigentlich nicht darf, und es am Ende einen riesigen Knall gibt. Das schöne ist, dass man mit solchen Youtube Videos richtig hohe Klickzahlen erzielt und das andere Mad Scientists sich das anschauen und nachmachen werden. Man kann also nur die Jugend ermutigen, selber Fehler zu machen, und nur die Dinge zu tun, die Spaß machen.

    Aber auch der “March for Science” der Erwachsenen ist nicht ganz so bieder wie es zunächst klingt. In einem anderen Blogpost habe ich gelesen, dass womöglich auch ein Dinosaurierer auftritt, von dem niemand sagen kann, ob da nun ein Schauspieler im Kostüm versteckt ist, oder womöglich der Dinosaurierer von einer Software gesteuert wird. Auf jeden Fall sollte man vorsorglich Abstand halten und keine hektischen Bewegungen machen.

  13. #13 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    22. April 2017

    @anderer Michael: das führt hier zu weit vom Thema weg, aber tatsächlich ist die Bundesrepublik Deutschland im Krieg in Syrien Partei. Du erkennst das schon daran, dass sich die Bundeswehr am Kriegsgeschehen dort aktiv beteiligt.

  14. #14 Hannes Bongard
    https://twitter.com/astrobroker
    23. April 2017

    Frag den Lesch: Wozu ist #Astronomie eigentlich gut?
    https://youtu.be/INoewplWPFs

  15. […] USA schauen, aus der die ursprüngliche Idee für diesen Marsch stammt. Joseph Kuhn zum Beispiel wies darauf hin, dass „nicht nur die Trumps, Orbáns und Erdogans die Wissenschaft gerne nach ihrem Bilde […]

  16. #16 Robert
    28. April 2017

    anderer Michael,
    ……gesellschaftlich benachteiligt,
    da fehlen noch alle die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind und keinen Führerschein haben.
    Die suchen an Bushaltestellen nach einer Sitzgelegenheit. Früher war da eine. Jetzt nicht mehr. Die “Underdogs” werden von den Kommunen einfach vergessen.

  17. #17 Robert
    28. April 2017

    Birk,
    …….Märsche für….
    Da scheint ja was in Mode zu kommen , oder besser geagt, wieder in Mode.
    Ich erinnere mich an den Marsch auf Rom vom Duce.
    Oder den Großen Marsch von Mao Tsetung.
    Der Marsch von Martin Luther King hatte sogar Vorbildcharakter.
    Ich denke, die wirklich Benachteiligten geraten dabei etwas ins Abseits, seit sich jeder Journalist berufen fühlt für einen Marsch.