Den „Hippokratischen Eid“ mit seiner wichtigsten Forderung, dass der Arzt dem Patienten helfen und ihm nicht schaden soll, kennt zumindest dem Namen nach wohl jeder. Er stellt eine der Grundlagen der Medizinethik dar. Allerdings gibt der Hippokratische Eid heute im Behandlungsalltag wie in der Forschung bestenfalls noch die grobe Richtung ärztlicher Verantwortung vor, als konkreter Handlungsleitfaden reicht er längst nicht mehr aus. Das wird besonders deutlich an den „Fronten“ des medizinischen Fortschritts, z.B. in der Neurologie.
Medizinische Lehrbücher sind oft ziemlich spröde Werke, sprachlich nicht selten auf dem Niveau eines Telefonbuchs. Gut zum Nachschlagen, stilistisch einschläfernd. Das Buch „Gehirn und Moral“ ist anders. Es will zwar dem Vorwort der Autoren zufolge gar kein Lehrbuch sein, aber es ist eins, im besten Sinne. Markus Frings, Professor für Neurologie in Essen und Ralf Jürgen Jox, Professor für Medizinethik in München, beides studierte Neurologen und Philosophen, haben eine fallbasierte Einführung in die Medizinethik geschrieben, in der sie ausgehend von zehn Behandlungsfällen ethische Fragen der modernen Medizin diskutieren:
• Herr Förster, ein bisher ein verantwortungs- und rücksichtsvoller Mann, verändert sich in seltsamer Weise, wird aggressiv, sogar kriminell. Es stellt sich heraus, dass er unter einer frontotemporalen Demenz leidet. Ist Moral nur eine Funktionsweise unseres Gehirns? Die Frage lässt sich, wie auch die anderen des Buchs, je nachdem, wie vielen Hirnwindungen man folgt, so oder so beantworten.
• Herr Weber, eben noch gesund und munter, bricht bei der Gartenarbeit zusammen. Ein Schlaganfall mit Einblutungen in die Stammganglien. Er könnte möglicherweise von einer neuen experimentellen Therapie profitieren, wenn diese sofort eingeleitet würde, aber dafür wäre – im Prinzip – sein Einverständnis nötig. Er ist aber gerade nicht ansprechbar. Was tun? Unter welchen Bedingungen darf man an Nichteinwilligungsfähigen neue Therapien testen? Das Thema hatten wir übrigens mit Blick auf Arzneimittelprüfungen vor kurzem auch hier im Blog.
• Ein junger Mann wird vom Blitz getroffen und befindet sich danach im Wachkoma bzw. in einem minimalbewussten Zustand. Wie lange soll er behandelt werden, und mit welchen Perspektiven?
• Eine demenziell erkrankte Tänzerin möchte nicht mehr essen und trinken. Man könnte ihr eine PEG-Sonde legen. Muss man? Soll man? Darf man?
• Bei Agnieszka, einer jungen Juristin, platzt ein Aneurysma. Der Hirntod wird festgestellt. Sie wäre eine ideale Organspenderin. Einen Organspendeausweis hat sie aber nicht. Ihr Freund sagt, vermutlich hätte sie keine lebenserhaltende Behandlung gewünscht, also auch keine organprotektive? Für ihre Eltern wiederum ist sie gar nicht tot, sie wollen, dass die Maschinen nicht abgestellt werden. Was tun? Und wann ist man eigentlich als Mensch „tot“?
• Ein älterer Herr kommt mit Gleichgewichtsstörungen in die Sprechstunde. Nach viel Diagnostik verdichtet sich der Verdacht auf eine genetisch bedingte Störung im Kleinhirn. Unter welchen Voraussetzungen sollte eine genetische Untersuchung erfolgen? Was sagt die Gendiagnostikkommission? Welche Unterschiede bestehen zwischen behandelbaren und unbehandelbaren Krankheiten? Oder was ist mit Blick auf eventuell betroffene Verwandte zu bedenken?
• Lena Wagner, Medizinstudentin, nimmt an einer Studie teil, bei der ein Kernspintomogramm ihres Hirns gemacht wird. Als Zufallsbefund stößt man dabei auf Demyelinisierungsherde im Gehirn, die sich als Vorboten der Multiplen Sklerose herausstellen. Wie sollen Ärzte mit solchen Zufallsbefunden umgehen, sei es in Studien, sei es in klinischen Untersuchungen, und was gilt es dabei zu beachten?
• Herr Ritter leidet an Parkinson. Er hat gelesen, dass die tiefe Hirnstimulation für bestimmte Parkinson-Patienten gute Ergebnisse bringen kann und möchte es versuchen. Es kann Nebenwirkungen geben, auch Persönlichkeitsveränderungen. Wird man dann „ein anderer Mensch“?
• Bei Iris Armbruster, einer Journalistin, wird ALS diagnostiziert, amyotrophe Lateralsklerose. Sie hat eine schnell und schwer verlaufende Form. Durch Recherchen erfährt sie von der Möglichkeit, über ein Brain-Computer-Interface Selbständigkeit zurückzugewinnen. Sind solche Technologien nur die Brillen des 21. Jahrhunderts, oder gibt es bei Prothesen mit Hirnanschluss doch mehr zu bedenken?
• Im letzten Kapitel geht es um einen Wissenschaftler im akademischen Hamsterrad, der überlegt, ob ihm leistungssteigernde Medikamente zum Erfolg verhelfen könnten. Neuroenhancement ist das Stichwort. Kaffee trinken wir alle, sollen wir auch alle ein wenig Methylphenidat nehmen, um wacher und schneller zu werden? Und vielleicht noch was Wirksameres danach?
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