In der Diskussion hier um politische Hirnerweichungen im Zusammenhang mit der Alternativmedizin hatte ein Kommentator auf einen Artikel des Kabarettisten Vince Ebert bei Spektrum.de verwiesen. Vince Ebert schrieb dort:
„Das Wissenschaftsmagazin “Science” hat errechnet, dass in US-amerikanischen Schulen pro Jahr höchstens einer von zehn Millionen Schülern durch eine erhöhte Asbestbelastung ums Leben kommt. Während der daraufhin durchgeführten Asbestsanierungen mussten viele Schüler die Schule wechseln und einen längeren Schulweg auf sich nehmen. Dabei verunglückten mehr als 300 von ihnen tödlich.”
Das kann durchaus sein, aber woher kommt die Zahl 300 und stammt sie aus einer Milchmädchenrechnung oder aus einer ernstzunehmenden Abschätzung? Vince Ebert verlinkt auf das Pubmed-abstract eines Science-Artikels von Mossman et al. In diesem abstract findet sich kein Beleg für die Aussage und im Volltext des Artikels, den man online abrufen kann, nur eine überschlagsartige Abschätzung des asbestbedingten Sterberisikos von Schülern, aber nicht für die 300 asbestsanierungsbedingten Sterbefälle.
Ein aufmerksamer Leser hat mir dann gemailt, dass es im Internet diverse Varianten der Geschichte gibt. Walter Krämer, Autor des berühmten Buchs „So lügt man mit Statistik“ (und einiger weiterer lesenswerter Bücher), hat sie offensichtlich in seinen Anekdotenfundus aufgenommen und gibt sie bei verschiedenen Gelegenheiten gerne zum Besten. Er wird auch im Internet mehrfach damit zitiert und schreibt beispielsweise bei der (meist nicht lesenswerten) „Achse des Guten“:
„Die Zeitschrift Science hat für die USA errechnet, dass dort höchstens ein Mensch von zehn Millionen jährlich durch erhöhte Asbestbelastung in den Schulen stirbt. Dagegen kommen unter zehn Millionen Schülern mehr als 300 jährlich als Fußgänger durch Verkehrsunfälle um. Science schließt daraus, dass die durch die Asbestsanierung der Schulgebäude erzwungenen Zwangsferien weit mehr Schüler das Leben gekostet haben, als durch Asbest auch unter den schlimmsten Annahmen jemals zu befürchten gewesen wäre.“
Leider gibt Walter Krämer gar keine Quelle an. Ich frage ihn mal, ob er noch weiß, wo er es her hat. Noch eine andere Variante findet sich auf der Internetseite „Heidtmanns Z(w)eitgeist“:
“Nach einem Bericht des renommierten Wissenschaftsmagazins „Science“ hat die Asbestsanierung der Schulen mehr Tote gefordert, als durch Asbest jemals gestorben wären. Denn aufgrund der Sanierung mussten die Schüler andere Schulen besuchen und hatten dadurch längere Schulwege. „Science“ führt auf, dass maximal einer von zehn Millionen Menschen im Jahr durch Asbestbelastung in Gebäuden stirbt. Auf der anderen Seite kommen mehr als 300 von zehn Millionen amerikanischen Schülern als Fußgänger ums Leben. Statistisch gesehen sind längere Schulwege damit deutlich gefährlicher als Asbest in Schulen.“
Auch hier gibt es keine Quellenangabe. Ich konnte die Originalquelle bisher nicht ausfindig machen. Ob die Zahl „300“ am Ende nur das allgemeine Risiko von Schülern angibt, als Fußgänger ums Leben zu kommen, 300 auf 10 Millionen? Auf die Zahl „300“ im Zusammenhang mit Asbest und Schulen bin ich lediglich in einem Bericht der englischen Anwaltsfirma BC Legal “Asbestos in schools and mesothelioma – looking to the future“ gestoßen. Sie zitiert den renommierten Epidemiologen Richard Peto mit der Einschätzung, “that in future 100-150 mesothelioma deaths per year for both males and females (300 in total) could be due to exposure at school”. Aber das ist eine andere Geschichte.
Wir haben es hier offensichtlich mit stiller Post zu tun, einer Wandersage der Epidemiologie. Früher oder später wird wohl jemand die Originalquelle finden. Ich bin gespannt, was da steht.
Kommentare (73)