Gerade gibt es wieder einen Kutschera-Sturm im Wasserglas. Seit einiger Zeit schon ist er auf kathnet, einem rechtskatholischen Forum unterwegs und gibt dort seine Ansichten zur “Ehe für alle” als wissenschaftlich begründete Aussagen zum Besten. Vor kurzem wurde bei kathnet ein Interview Kutscheras mit dem ebenfalls einschlägigen polnischen Wochenmagazin Sieci recycled, in dem wir erfahren, dass hinter der Ehe für alle eine „politisch einflussreiche Links/Grün/Rot-indoktrinierte Gender-Homo-Lobby“ steht. Dabei sieht die Mehrheit der Bevölkerung die Sache inzwischen als „ganz normal“ an.
Im Laborjournal hat er in der aktuellen Ausgabe 9/2017 auf einen Beitrag von Brynja Adam-Radmanic „Biologie in der Gender-Debatte: Vom Feminismus geächtet, vom Rechtspopulismus umarmt“ in Heft 5/2017 geantwortet. Da kann man von Kutschera lernen, dass sozialempirische Erhebungen mit Fragebogen- oder Telefon-Interviews nur als „Forschung“ verkauft werden: „Dazu benötigt man keinen Uni-Lehrstuhl; das können auch wissenschaftliche Laien mit guten Noten im Schulfach Mathematik und solider Allgemeinbildung.“ Was sozialwissenschaftliche Forschung ist, hat sich dabei natürlich nach seinen Vorstellungen zu richten: „Wir respektieren (…) selbstverständlich geistes- und sozialwissenschaftliche Publikationen beziehungsweise Erkenntnisse, sofern sie unseren internationalen Standards entsprechen.“ Ganz normal.
Und bei der Richard Dawkins-Stiftung nimmt er gerade die Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft aufs Korn – die sei als „Spektrum der Pseudowissenschaft im Gender-Rausch“. Schon 2016 habe er auf ein Editorial reagiert, in dem es hieß, „dass bei einigen Ingenieur-Studiengängen der Männeranteil bei über 90 % und jener der Damenwelt unter 10 % liegt. (…) Ich hatte damals höflich darauf hingewiesen, dass es empirische Studien gibt, die belegen, dass dieser Gender-Gap im Wesentlichen biologisch ist.“ So wie früher vermutlich biologisch bedingt der Arztberuf eine überwiegend männliche Domäne war und die „politisch einflussreiche Links/Grün/Rot-indoktrinierte Gender-Homo-Lobby“ daran schuld ist, dass dem nicht mehr so ist. Jetzt hat er sich über einen Beitrag in SPEKTRUM geärgert, der die Geschlechterverhältnisse etwas komplexer beschrieben hat, als sie nach seiner Meinung sind. Folglich Pseudowissenschaft.
Das war der Vorspann. Oder die Rubrik „Was macht eigentlich Herr Kutschera?“ Über Kutscheras Ansichten ist aber mehr oder weniger alles gesagt, mehrfach. Schade, dass er nicht mehr zurückfindet zu einer Ebene, auf der man vernünftig diskutieren kann. Das ist daher diesmal auch nicht mein Thema, sondern ein Leserkommentar zu dem Geschlechterartikel bei SPEKTRUM. Dort schreibt jemand:
„Im Übrigen ist die Statistik nicht immer ein geeignetes Mittel um eine ‚Wahrheit‘ zu erkennen. Statistisch haben die Menschen im Durchschnitt weniger als zwei Augen. Dennoch würden die Meisten ‚zweiäugig‘ als den Normalfall deklarieren.“
Das ist eine assoziationsreiche Äußerung und ein paar Assoziationen dazu will ich hier anbringen. Zunächst: Der Satz klingt einleuchtend, aber er stimmt nicht. Zwar haben die Menschen „im Durchschnitt“ – wegen einer gewissen Zahl derer, die ein Auge oder zwei Augen verloren haben – weniger als zwei Augen. Wenn man „Durchschnitt“ als arithmetisches Mittel definiert und nicht als Median, darüber wird gerade nebenan bei Florian Freistetter diskutiert. Der Median der Augenzahl der Menschen ist zwei. Man sollte hier also ganz einfach nicht mit dem arithmetischen Mittel arbeiten, um „den Normalfall“ zu identifizieren. Oder sich wenigstens zusätzlich dazu ein Streuungsmaß ansehen, oder überhaupt erst einmal darüber nachdenken, was „der Normalfall“ ist.
Der „Normalfall“ kann als der häufigste Wert verstanden werden. Das wäre übrigens der sog. “Modus“, also noch einmal eine andere Form von „Mittelwert“. Der häufigste Wert muss aber natürlich nicht die „Norm“ im Sinne eines Sollens sein. Dies vermischt auch Kutschera gerne, wenn von der Häufigkeit einer „normalen“ Geschlechterverteilung zur Heteronormativität kommt. Grundsätzlich sagen empirische Daten nie, was sein soll. Der Schluss vom Sein auf das Sollen ist nach David Hume ein Fehlschluss, George Edward Moore hat Anfang des letzten Jahrhunderts – unter einem spezifischen Blickwinkel – den Begriff des „naturalistischen Fehlschlusses“ geprägt. Es gibt kein logisch gültiges Schlussverfahren, das vom Sein zum Sollen führt.
Was „statistisch normal“ ist, muss nicht das normativ Richtige oder Wünschenswerte sein. Das gilt auch für biologische Sachverhalte oder – hier wurde darüber diskutiert – für die Unterscheidung zwischen „gesund“ und „krank“. Naturalistische Begründungen des Krankheitsbegriffs sind höchst problematisch und das umso mehr, je mehr das Verständnis einer „Krankheit“ durch gesellschaftliche Wertungen geprägt ist. Homosexualität beispielsweise gilt in Deutschland heute nicht mehr als Krankheit, sondern als Normvariante. Mag sein, dass viele Homosexuelle „leiden“, aber sie leiden vor allem unter gesellschaftlicher Diskriminierung, nicht unter einer körperlichen „Fehlfunktion“, was immer das gemessen an welcher Norm – nicht statistischer Normalität (!) – sein mag. Genauso gibt es manche psychische Störungen, die früher gerne diagnostiziert wurden, heute nicht mehr, oder nur noch selten, dafür haben wir andere gefunden oder erfunden.
Irgendwie hat der Kommentator bei SPEKTRUM aber natürlich auch recht. Mathematiker beispielsweise hätten mit dem zitierten Leserkommentar vielleicht weniger Probleme. Schließlich entscheidet in der Mathematik nicht die Häufigkeit von Rechenergebnissen über die Richtigkeit von Sätzen, sondern der Beweis. Auch wenn spontan viele, vielleicht die meisten Menschen beim berühmten „Ziegenproblem“ auf „Nichtwechseln“ setzen – es ist trotzdem falsch. Und wenn in der Schule alle in der Klasse glauben, die Wurzel aus 2 sei auch nur ein Bruch, so wird es dafür keine gute Note geben.
Um zum Schluss doch noch einmal auf Kutschera zurückzukommen: Dass er aktuell seine Ansichten besonders häufig äußert, macht sie auch nicht richtiger. Das ist eigentlich ganz normal.
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