Der Streit um Glyphosat dreht immer wildere Runden. Für Wissenschaftstheoretiker und –ethiker liefert er ein außergewöhnliches Fallbeispiel über die Probleme, wissenschaftliche Evidenz in Interessenkonflikten zur Geltung zu bringen – noch komplexer und schillernder als beim Thema Passivrauchen.
Glyphosat ist ein Pestizid. Pestizide, das nur nebenbei, umfassen neben „Unkrautvernichtungsmitteln“ wie Glyphosat auch Biozide, also Mittel z.B. gegen tierische Schädlinge. Im e-journal German Medical Science ist vor kurzem ein Artikel von Susanne Moebus und Wolfgang Bödeker über Pestizidvergiftungen erschienen. Die Autoren versuchen, aus der amtlichen Statistik Anhaltspunkte für die Häufigkeit und die zeitliche Entwicklung von Pestizidvergiftungen in Deutschland zu gewinnen. Um keine Missverständnisse zu erzeugen: Es geht dabei nicht um die gesundheitlichen Folgen des Glyphosateinsatzes in der Landwirtschaft. Zum einen enthalten die Daten der amtlichen Statistik nicht die dazu nötigen Merkmale, zum anderen sind die in der amtlichen Statistik dokumentierten Pestizidvergiftungen akute Vergiftungen, nicht mögliche Langzeitfolgen wie etwa Krebs.
Moebus und Bödeker analysieren Daten der Krankenhausstatistik und Daten der Todesursachenstatistik für die Jahre 2000 bis 2014. Pestizidvergiftungen werden unter der ICD-Ziffer T60 kodiert. Im Ergebnis zeigt sich ein rückläufiger Trend sowohl bei den Krankenhausfällen als auch bei den Sterbefällen infolge von Pestizidvergiftungen. Nur ein kleiner Teil der im Krankenhaus behandelten Vergiftungen, etwa 5 %, verliefen demnach tödlich. Männer waren häufiger betroffen als Frauen und bei den nichttödlichen Vergiftungen vor allem die Altersgruppe unter 55 Jahren, bei den tödlichen Vergiftungen dagegen vor allem die Altersgruppe ab 55 Jahren. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die tödlichen Vergiftungen häufiger auf Suizidabsichten zurückgehen als auf Unfälle beim Umgang mit Pestiziden.
Die Autoren weisen des Weiteren darauf hin, dass es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Zahl der tödlich ausgehenden Vergiftungen unter den Krankenhausfällen und den in der Todesursachenstatistik dokumentierten Fällen gibt. Unter den 107 Pestizidvergiftungen, die 2015 im Krankenhaus behandelt wurden, gab es keinen Sterbefall, im Jahr zuvor waren es zwei Fälle. Die Todesursachenstatistik verzeichnete 2015 17 tödliche Pestizidvergiftungen, darunter 14 Suizide. Dass ein Teil der Menschen, die sich mit einem Pestizid umbringen wollen, gar nicht mehr ins Krankenhaus kommen, könnte ein Teil der Erklärung für die diskrepanten Daten sein. Die Überlegung der Autoren, ob Suizide mit Pestiziden in der Todesursachenstatistik eventuell anders kodiert werden, z.B. als Depression, würde die Datendiskrepanz noch verschärfen, weil es dann zu einer Untererfassung der suizidbedingten Pestizidsterbefälle käme. Bei der Kodierung von Sterbefällen nach den „äußeren Ursachen“ spielt meines Wissens aber das sog. „Grundleiden“, an dem sich die Todesursachenstatistik sonst orientiert, keine Rolle.
Die Autoren fordern, bei der bevorstehenden Umstellung von ICD 10 auf ICD 11 Pestizidvergiftungen differenzierter zu erfassen. Das wäre sicher hilfreich, auch mit Blick auf Vergiftungen insgesamt. Darüber, welche Personen von welchen Vergiftungen betroffen sind, gibt es keine sonderlich gute Datenlage, egal ob es um Vergiftungen durch Pestizide, Giftpilze oder Haushaltsreiniger geht. Eine wichtige Datenquelle zu Vergiftungsfällen sind übrigens die Giftinformationszentralen, deren Daten auch das Bundesinstitut für Risikobewertung für sein Vergiftungsmonitoring nutzt. Dennoch zeigt der Artikel von Moebus/Bödeker einmal mehr, dass es sich immer wieder lohnt, in die von der Wissenschaft oft etwas abschätzig beäugte amtliche Statistik zu schauen. Manchmal stößt man doch auf ganz interessante Dinge.
Kommentare (45)