Ende letzten Jahres hat die WELT berichtet, dass die Bundesregierung in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der FDP von 280 Masern-Sterbefällen und ca. 190.000 Sterbefällen infolge von impfpräventablen Erkrankungen insgesamt im Laufe der letzten 10 Jahre ausgeht. In impfskeptischen Kreisen hat das schnell zu ungläubigen Reaktionen geführt. Steffen Rabe, Kinderarzt aus München und Mitglied des Vereins für individuelle Impfentscheidung, spricht z.B. von den „Nullen der Bundesregierung“, weil er davon ausgeht, die Zahl der Masernsterbefälle sei um eine Zehnerpotenz überhöht.
In der Tat irritiert die Zahl von 280 Masernsterbefällen. Hier auf Gesundheits-Check hat der Kommentator „Rosenkohl“ auf die Meldung der WELT und die Kritik Rabes hingewiesen. Der Text der Antwort der Bundesregierung ist bisher nicht als Bundestagsdrucksache online*, so dass man bisher nur spekulieren konnte, über was da überhaupt geredet wird. Freundlicherweise hat mir die FDP-Fraktion die Antwort der Bundesregierung heute zukommen lassen. Die Antwort zeigt, dass die Statistik der Sterbefälle bei Infektionskrankheiten alles andere als eine klare Sache ist.
Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort auf die Frage nach der Zahl der an Masern Verstorbenen zunächst: „Drei Personen verstarben lt. IfSG-Daten seit 2007 an Masern.“ Das IfSG ist das Infektionsschutzgesetz, auf seiner Grundlage sind bestimmte Infektionskrankheiten meldepflichtig. Dass es bei den Masern eine Untererfassung im Rahmen der IfSG-Meldepflicht gibt, ist seit längerem bekannt, das haben schon vor einigen Jahren Abgleiche des RKI mit Daten aus der kassenärztlichen Versorgung gezeigt. Aber auch die Todesursachenstatistik verzeichnet mehr masernbedingte Sterbefälle als das IfSG-Meldewesen. In der Todesursachenstatistik werden von 2007 bis einschl. 2015, dem letzten verfügbaren Jahr, 13 masernbedingte Sterbefälle ausgewiesen.
In der Antwort der Bundesregierung geht es anschließend um die SSPE-Fälle, die subakute sklerosierende Panenzephalitis, eine Spätfolge der Masern, die immer tödlich endet. Hier bezieht sich die Bundesregierung auf die Krankenhausstatistik und nennt die in den Medien wiedergegebene Zahl von 280 Fällen. Das ist korrekt, aber hier überschätzt die Krankenhausstatistik wohl die Zahl der Sterbefälle, denn die Krankenhausstatistik ist eine Fallstatistik, keinen Personenstatistik. Man kann davon ausgehen, dass ein an SSPE erkranktes Kind im Lauf eines Jahres mehrmals in Krankenhaus kommt und somit mehrere „Fälle“ verursacht. Die Todesursachenstatistik weist in den Jahren 2007 bis 2015 insgesamt 29 SSPE-Sterbefälle aus. In dieser Hinsicht hat Herr Rabe mit seiner Nullen-Vermutung also vermutlich durchaus Recht.
Die Zahl aller masernbedingten Sterbefälle wiederum könnte damit allerdings unterschätzt werden, falls es außer SSPE noch andere Krankheitsfolgen gibt, die später zum Tode führen. Mit Sicherheit jedenfalls darf man nicht bei den infektionsbedingten Sterbefällen insgesamt einfach die Daten der Todesursachenstatistik heranziehen. Dort werden nämlich nur die Fälle dokumentiert, bei denen der Arzt als sog. „Grundleiden“ auch eine Infektionskrankheit auf dem Totenschein einträgt. Das wird oft genug, z.B. nach einer Influenza, nicht der Fall sein. Das Robert Koch-Institut berechnet daher die Zahl der Influenzatoten auf der Basis der Exzesssterblichkeit, d.h. man vergleicht Jahre mit vielen Influenzafällen hinsichtlich ihrer Gesamtsterblichkeit mit normalen Jahren (etwas vereinfacht ausgedrückt). Für manche andere Infektionskrankheit müsste man ein analoges Vorgehen überlegen.
In der Antwort der Bundesregierung wird als Basis für die genannten 190.000 Sterbefälle nur pauschal auf „Schätzungen des RKI von 2007 bis 2017“ verwiesen und dass den Berechnungen „Daten der Todesursachenstatistik, aus der Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Meldedaten nach IfSG, Schätzungen des Zentrums für Krebsregisterdaten, Schätzungen der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI) und Schätzungen der STIKO Arbeitsgruppe Pneumokokken“ zugrunde lagen. Mehr weiß ich dazu bisher auch nicht. Anders als die 280 SSPE-Sterbefälle überraschen mich die 190.000 Sterbefälle infolge impfpräventabler Erkrankungen insgesamt aber nicht, schon allein aufgrund der hohen Zahl an jährlichen Sterbefällen, die der Influenza zuzurechnen sind.
Ob es bei den SSPE-Fällen vielleicht doch Gründe gibt, die eher für die Daten der Krankenhausstatistik als die der Todesursachenstatistik sprechen, wäre zu klären. Leider werden in der „Datenschatzgrube“ der Gesundheitsberichterstattung – der Seite www.gbe-bund.de – bei den SSPE-Krankenhausfällen nicht auch die Sterbefälle im Krankenhaus ausgewiesen, wie das bei ICD-Ziffern mit größeren Fallzahlen geschieht. Urlaubsbedingt kann ich im Moment dazu nicht mehr anbieten, mal sehen, ob ich später noch etwas ergänzen kann.**
Was jenseits der Untiefen der Statistiken zu Infektionskrankheiten bleibt, ist die Botschaft, dass es sich beim Impfen nicht um einen Luxus handelt, den man sich genauso gut sparen kann. Pro und Contra sind hier recht ungleich verteilt. Impfen rettet Leben, und zwar in einem erheblichen Umfang. 190.000 Sterbefälle im Laufe der letzten 10 Jahre – das ist in etwa die Einwohnerzahl von Städten wie Saarbrücken oder Rostock.
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* Nachtrag 5.1.2018: Jetzt ist die Antwort online: https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/003/1900320.pdf
** Nachtrag 9.1.2018: Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes gab es keine SSPE-Sterbefälle im Krankenhaus. Die Krankenhausstatistik ist damit für die Frage der SSPE-Sterbefälle nicht hilfreich.
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