In der Psychologie gibt es Forschungsprogramme, die auch noch nach 100 Jahren zu interessanten Studien führen. Ein Beispiel sind die handlungs- und affektpsychologischen Konzepte von Kurt Lewin aus den 1930er Jahren. Dazu gehören Experimente zum Zusammenhang von unabgeschlossenen und abgeschlossenen Handlungen mit dem Gedächtnis und der Vorsatzbildung. Berühmt geworden sind insbesondere der „Zeigarnik-Effekt“, demzufolge unabgeschlossene Handlungen besser erinnert werden, oder der „Ovsiankina-Effekt“, demzufolge unerledigte Aufgaben eine Tendenz haben, wiederaufgenommen zu werden, also motivationale Wirkung haben. Beide Effekte sind nach „Schülerinnen“ von Lewin aus seiner Berliner Zeit benannt.
Dass unerledigte Arbeiten einen deshalb bis in den Schlaf verfolgen können, kennen vermutlich die meisten von uns. Die Frage ist, ob man sie besser gleich erledigt. Die Antwort lautet nein, Ersatzhandlungen tun es auch. Auch das haben zwei Schülerinnen von Lewin untersucht, Käte Lissner und Wera Mahler.*
Ein Artikel von Sebastian Herrmann in der Süddeutschen Zeitung hat jetzt auf eine Studie im Journal of Experimental Psychology aufmerksam gemacht, derzufolge To-Do-Listen eine dieser Ersatzhandlungen sein können. Michael Scullin et al. von der Baylor University in den USA haben untersucht, ob Leute schneller einschlafen, wenn sie abends aufschreiben, was sie noch zu tun haben. Dem ist so, und zwar schlafen sie umso schneller ein, je detaillierter und umsetzungsorientierter ihre To-Do-Liste ausfällt. Sie schlafen auch schneller ein als diejenigen, die eine Liste mit erfolgreich erledigten Arbeiten anfertigen. Denen gehen dafür die unerledigten weiter im Kopf herum. Aus der Sicht der frühen Arbeiten der Lewin-Gruppe ist das keine Überraschung: Aufgeschrieben ist halb erledigt.
Mich würde interessieren, welchen Effekt unterschiedliche Arten von unerledigten Dingen haben. Könnte es z.B. sein, dass man bei Dingen, die einen total überfordern, am Ende doch nicht besser einschläft? Dass einem dann beim Aufschreiben erst richtig klar wird, dass man es nicht schaffen kann? Scullin et al. haben zwar den wahrgenommenen Stresslevel ihrer Probanden untersucht, aber, wenn ich es recht sehe, nicht die Bewältigbarkeit der unerledigten Aufgaben selbst. Die Probanden der Studie wurden, wie so oft in psychologischen Studien, auf dem Campus rekrutiert, es waren durchweg jüngere Probanden (18 bis 30 Jahre alt), also eine selbstselektierte Gruppe mit möglicherweise nicht hinreichender Variation der unerledigten Aufgaben.
Das war die Vorrede mit Verneigung vor dem großen Kurt Lewin und seinen klugen Mitarbeiterinnen. Jetzt frage ich mich: Ist die Liste aus den Sondierungsgesprächen mit den Vorhaben der nächsten GroKo auch eine Ersatzhandlung, weil man ruhig schlafen wollte und Angst vor den wirklich großen politischen Herausforderungen hatte, nämlich der Gesellschaft mit einem New Deal für ein Land, in dem alle gut und gerne leben, eine hoffnungsvolle Perspektive zu geben? Dass die GroKoisten ihre Vereinbarungen trotzdem als Erfolg ansehen, hat vielleicht mit dem nicht sehr hohen Anspruchsniveau zu tun. Dass die Verringerung des Anspruchsniveaus subjektive Erfolgswahrnehmungen erzeugen kann, hat übrigens auch ein Schüler Lewins, Ferdinand Hoppe, untersucht und 1930 unter dem Titel „Erfolg und Misserfolg“ veröffentlicht. Der Ovsiankina-Effekt steht uns politisch wohl noch bevor.
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* Frauen in der akademischen Forschung waren damals alles andere als selbstverständlich. Ob es wohl eine Studie zu Lewins Rolle in diesem Zusammenhang gibt?
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