Eine alte Geschichte
Die gesetzliche Unfallversicherung gibt es seit 1884. Bismarck hat sie in einer Zeit eingeführt, in der ähnlich wie heute der Wohlstand des Landes insgesamt stieg, aber nicht alle gleichermaßen daran teilhatten. Die Sozialdemokratie gewann an Zulauf, die Idee der Sozialversicherung – ein Jahr zuvor kam die gesetzliche Krankenversicherung – war auch als Bollwerk gegen die SPD gedacht. Ein besonderer Aspekt der Unfallversicherung war die Ablösung der Unternehmerhaftpflicht durch den Versicherungsanspruch der Beschäftigten. Seitdem muss jemand, der einen Arbeitsunfall hat, nicht mehr mühsam das Verschulden des Unternehmers nachweisen und dann vor Gericht womöglich in einem jahrelangen Rechtsstreit einen Schadensersatz durchklagen. Etwas vereinfacht gesagt genügt es jetzt, wenn der Unfall bei einer versicherten Tätigkeit passiert. 1925 kam dann die Versicherung gegen Berufskrankheiten dazu. Berufskrankheiten sind nicht alle beruflich bedingten Erkrankungen, sondern nach einem Listenprinzip genau definierte Krankheiten, mehr als 70 gibt es. Weil die gesetzliche Unfallversicherung die Unternehmerhaftpflicht ablöst, also das Haftungsrisiko für eindeutig betrieblich bedingte Gesundheitsschäden, werden die Beiträge in diesem Sozialversicherungszweig auch alleine durch die Unternehmen getragen.
Die Unfallversicherung in Deutschland ist aber nicht nur eine Versicherung im Schadensfall, sondern sie ist stark präventiv ausgerichtet. Die Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sind wichtige Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung und dazu darf sie sogar Recht setzen, also Vorschriften erlassen und Bußgelder verhängen.
In den ersten 100 Jahren ihres Bestehens hat sich der Blick der Unfallversicherung vor allem auf technische, physikalische, chemische und biologische Risiken gerichtet – weil das die Ursachen für Arbeitsunfälle und die in der Berufskrankheitenliste aufgenommenen Berufskrankheiten waren. Daher hatten die Aufsichtspersonen der Unfallversicherung meist eine technisch-naturwissenschaftliche Qualifikation. Dieser Präventionsansatz war bis in die Gegenwart durchaus erfolgreich, wie die Entwicklung der Arbeitsunfälle zeigt, wenngleich dazu natürlich auch viele andere Faktoren, z.B. der wirtschaftliche Strukturwandel, beigetragen haben:
Neu aufgelegt
Aber jede Zeit hat ihre Risiken und heute gewinnen immer mehr psychische Belastungen an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kam es 1996 zu einer recht weitreichenden Novellierung des Arbeitsschutzrechts und dabei auch des Aufgabenspektrums der Unfallversicherung. Seitdem soll sie nach § 14 SGB VII „mit allen geeigneten Mitteln“ auch für die Verhütung von arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren sorgen. Das ist ein umfassender und explizit nicht mehr auf technische, physikalische, chemische und biologische Risiken beschränkter Präventionsauftrag.
Die Unfallversicherung hat sich damit zunächst sehr schwer getan. Für Stress gibt es keine einfach bestimmbaren Grenzwerte wie für einen Gefahrstoff. Und wenn jemand einen Herzinfarkt erleidet, ist schwer zu sagen, welchen Anteil daran der Stress in der Arbeit, das Rauchen oder Bewegungsmangel hatte. Bei den psychischen Belastungen stößt die traditionelle technisch-naturwissenschaftliche Expertise der Aufsichtspersonen an Grenzen – die der Betriebsärzte übrigens auch.
Hinzu kam, dass die Beschäftigten in vielen Betrieben heute nicht mehr nur Anweisungen befolgen, tayloristisch funktionieren sollen, sondern ihre Aufgaben umsichtig selbst planen, ausführen und kontrollieren müssen. Das hat auch Folgen für den Arbeitsschutz. Er lässt sich weniger gut „verordnen“, die Beschäftigten müssen verstehen, worauf es ankommt und die Betriebe müssen das wollen und fördern. Auch hier kommt also viel „Psychologie“ ins Spiel, und darüber hinaus kulturelle Selbstverständlichkeiten von Berufen und Betrieben. Was gilt als „normales“ Berufsrisiko, was nicht, was nimmt man hin, was nicht, wo kollidieren Arbeitsdruck und Arbeitssicherheit, wie geht man unter Kollegen möglichst „gesundheitsförderlich“ miteinander um – mit einem Wort, wie kommt man zu einer „Kultur der Gesundheit“ in der Arbeitswelt?
Kommmitmensch
Die Fragen sind natürlich an sich nicht neu und bewegen die Arbeits- und Organisationspsychologie schon lange. Aber damit auch die Unfallversicherung mit diesen Fragen vernünftig umgehen konnte, musste sie erst einmal selbst eine Art Kulturwandel durchleben und den Arbeitsschutz jenseits des Messbaren entdecken. Das hat sie schrittweise getan, jedes Jahr ein wenig mehr und seit einem Jahr gibt es nun die Kampagne „Kommmitmensch“. Sie ist darauf angelegt, in den Betrieben eine Kultur der Gesundheit zu stärken. Dass das in Betrieben nicht geht, deren Geschäftsprinzip Ausbeutung ist, ist klar, da sind weiter Vorschriften und Bußgelder das Mittel der Wahl. Aber viele Unternehmen wirtschaften anders, sie wissen, dass sie nicht nur motivierte, sondern auch gesunde Mitarbeiter brauchen und dass das nicht nur durch Arbeitsschutzvorschriften zu erreichen ist. Was macht also eine Kultur der Gesundheit im Betrieb aus und wie kommt man da hin? Was bedeutet das für die Führungskräfte, was für die Beschäftigten und was können die Unfallversicherungsträger dazu beitragen? Darum geht es in der Kampagne kommmitmensch. Sie ist auf 10 Jahre angelegt, also kein Strohfeuer, und ich vermute, nach den ersten 10 Jahren wird es unter neuem Label damit auch weitergehen.
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