Nach Søren Kierkegaard und seiner Küchenpsychologie kann man das das Leben zwar rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts. Dabei kann man nicht alles kritisch bedenken. Ob der Bäcker morgen vergiftete Brötchen anbietet, der Arbeitsvertrag vielleicht still und heimlich gekündigt wurde, der Partner insgeheim doch fremd geht, der Todesmeteorit naht oder die Russen mobil machen – wenn man das alles jeden Tag für klärungsbedürftig hält, weil prinzipiell möglich, ist man paranoid.
Der confirmation bias ist eine lebensermöglichende Heuristik. Was bisher gut ging, wird schon weiter gut gehen, mit dieser Erwartung meistern wir den Alltag in aller Regel ganz erfolgreich. Und das berühmte Beamten-Motto, „das war schon immer so, das haben wir schon immer so gemacht, da könnte ja jeder kommen“, ist jenseits des Stirnrunzelns über bürokratische Verkrustungen eine durchaus sinnvolle Abwehr dagegen, dass Bewährtes unnötig infrage gestellt wird.
In der Wissenschaft, der systematischen Untersuchung dessen, was ist und vor allem, was fragwürdig ist, wäre das dagegen kein gutes Motto. Hier gilt es statt dessen, die Dinge kritisch hin- und herzuwenden, die eigenen Vorannahmen „ungläubig“ zu hinterfragen und nach Möglichkeit Methoden zu verwenden, die nicht zu fehleranfällig sind und dem confirmation bias keinen Vorschub leisten. Dass ein „Weiter so“ trotzdem auch im Rahmen von Forschungsprogrammen (oder noch grundlegender: im Rahmen von „Paradigmen“) Teil des wissenschaftlichen Modus vivendi ist, ist klar. Wer sich mit dem Verhältnis von Kritik und Vertrauen in der Wissenschaft näher beschäftigen will, lese eine Einführung in die Wissenschaftstheorie.
Mir geht es um einen anderen Punkt: Das Gewohnte ist Teil unser psychologischen Vertrauens- und Sicherheitsarchitektur. Wir müssen, um nicht paranoid allem zu misstrauen, vertrauen, wenn wir uns auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren wollen. Sich auf etwas konzentrieren heißt, anders erst mal gut sein zu lassen. Darauf folgt nicht, dass wir nichts ändern wollen. Das wäre langweilig. Der Mensch ist von Natur aus neugierig und wir wollen nicht nur, dass es „unsere Kinder einmal besser haben“, wir wollen auch selbst einmal ein neues Eis ausprobieren, unbekannte Städte sehen, neue Leute mit anderen Ansichten und Gewohnheiten kennenlernen und natürlich auch Missstände und Ungerechtigkeiten aller Art beseitigen. Der Mensch ist sozusagen von Natur aus darauf eingestellt, seine gesellschaftlich vermittelten Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Wenn man uns das zu rigide verweigert, werden wir unzufrieden und stürzen auch schon einmal eine Regierung, die DDR-Führung musste das 1989 erfahren.
Auf der anderen Seite verunsichert es uns, wenn der gewohnte Boden des Alltags in Bewegung gerät, umso mehr, wenn es ohne unser Zutun geschieht oder gar gegen unseren Willen. Das kann Angst vor Kontrollverlust erzeugen, und das ist ein anderes Wort für Stress. Deutschland leidet im Moment unter Identitätsstress. Die Welt ist im Umbruch, soziale Selbstverständlichkeiten lösen sich auf, unser Lebensstil gilt als Quelle von Umweltverschmutzung und Klimawandel, die Lebenserwartung steigt, aber die Älteren halten in der modernen Arbeitswelt nicht mehr mit, Menschen aus fremden Kulturen kommen hierher, manche wollen hier leben und wie es insgesamt mit alldem weitergeht, scheint immer unsicherer. Was verbindet uns, welche Werte teilen wir, worauf müssen wir uns einstellen, was dürfen wir von anderen, insbesondere Zuwanderern, erwarten, wie wollen wir leben? Wenn der Boden der vertrauten Gewohnheiten wankt, ist Sehnsucht nach Gestern naheliegend, ebenso wie die Suche nach Schuldigen oder geheimen Mächten im Hintergrund verständlich ist, aber kritisches Nachdenken wäre vielleicht auch nicht verkehrt. In der neueren Küchenpsychologie spricht man davon, dass den Kopf in den Sand zu stecken, die Sicht behindert. Ob man damit viel weiter ist als mit Kierkegaard, weiß ich allerdings auch nicht.
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