Dass jedes Mittel, das wirkt, auch Nebenwirkungen hat, ist eine Binsenweisheit in der Medizin. Diese Erfahrung macht nun auch der neue bayerische Ministerpräsident mit seinem Kreuz-Erlass. Die Geschichte hat den Blog hier seit Wochen mit stetem Nachschub aus einer wahren Fettnäpfchentour der Erlass-Verteidiger, eigentlich alles mediale Profis, sowie interessant verwinkelten und manchmal paralogischen Gedankengängen von Kritikern und Verteidigern des Erlasses versorgt.
Auf Gesundheits-Check wurde die Kritik am Erlass vorwiegend aus der verfassungsrechtlichen und staatstheoretischen Perspektive formuliert: Das Kreuz kann nicht als Zeichen für die Werthaltungen des säkularen Staates stehen. Dass der Staat vielfältige Beziehungen zu den Kirchen pflegt und seine Vertreter natürlich auch religiös und kirchlich geprägt sind, steht dem nicht entgegen. Der Staat pflegt auch vielfältige Beziehungen zur Autoindustrie, auch hier nicht immer nur solche, die im Interesse des Volkes sind. Die Autoindustrie hat dieses Land ebenfalls kulturell tief geprägt, bis hin zur konsumistischen Degeneration des Freiheitsbegriffs („freie Fahrt für freie Bürger“), aber niemand käme wohl auf die Idee, deswegen den Daimler-Stern im Eingangsbereich von Behörden als Zeichen der Werthaltungen des Staates aufzuhängen. Oder gerade deswegen nicht.
Die andere Kritikrichtung ist die aus der religiösen und kirchlichen Perspektive. Auf die “Ökumenische Erklärung” der frommen bis fundamentalistischen Professoren wurde nebenan gestern hingewiesen. Mit mehr Verstand hatte Kardinal Marx den Erlass und die damit verbundene Instrumentalisierung des Kreuzes kritisiert – und sich damit in die Riege der „Religionsfeinde“ eingereiht, wie der CSU-Generalsekretär die Erlass-Kritiker bezeichnete. Heute ist in der Süddeutschen ein Kommentar des stets etwas nach Weihrauch duftenden Matthias Drobinski – mit Kritik am Kreuz-Erlass wiederum aus der eher frommen Ecke:
“Als Schmiermittel des Staates verlöre der Glaube seine beunruhigende, verunsichernde Kraft gegenüber aller Macht und aller Staatsgewalt, für das gerade das Kreuz steht: Der Gefolterte und sozial Vernichtete ist für die Christen der Erlöser der Menschheit. Das Behördenkreuz ist eine Banalisierung dieses Glaubens – wer nicht widerspricht, macht da mit.”
So gesehen, müssten manche echte Religionsfeinde fast schon für den Kreuz-Erlass sein – eben weil er den Glauben banalisiert. Aber im Ernst: Der Hinweis, dass der Gekreuzigte geradezu für die Differenz von Glaube und Staat steht, dass am Kreuz ein Mensch hängt, der der Staatsräson geopfert wurde, ist ein Gedanke, über den es sich nachzudenken lohnt.
Und Drobinskis Kommentar macht einmal mehr deutlich, dass Söders Versuch, vor der Landtagswahl ein Zeichen der bayerischen Identität zu setzen, Bayern spaltet. Identitätsbildung vollzieht sich immer über Grenzziehungen: Was macht meine Identität im Unterschied zu anderen aus – und daraus wird nur allzu schnell die Frage, wer gehört zu uns, wer nicht. Kardinal Marx hatte daher mit seinem frühen Hinweis, der Kreuz-Erlass spalte, völlig Recht. Der Erlass spaltet die Bevölkerung, einschließlich ihrer Staatsdiener. Er spaltet die, die den Staat als Verteidiger einer wie auch immer gearteten Tradition sehen und die, die ihn in der Pflicht sehen, das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen „letzten Wahrheiten“ zu gewährleisten. Und er spaltet innerhalb der Kirche, selbst innerhalb der frommen Gruppen.
Positiv könnte am Ende als Ironie der Geschichte bleiben, dass seit langem nicht mehr öffentlich so intensiv über das Verhältnis Staat-Religion diskutiert wurde wie jetzt. Welche Wirkungen und Nebenwirkung das entfaltet, wird man sehen. Vielleicht sogar in Prozentangaben bei Landtagswahl.
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