Von der Tabakindustrie lernen
Wie man unliebsame Wissenschaft ins Leere laufen lässt, ist nach wie vor am besten von der Tabakindustrie zu lernen. Sie hat vermutlich alle Register in diesem Geschäft gezogen und zur Meisterschaft entwickelt. Sie hat vorhandene Erkenntnisse verheimlicht. Sie hat eigene gute Forschung gemacht, um zu wissen, wie gefährlich Tabakrauch ist, bevor es andere wissen. Sie hat des Weiteren selbst geforscht, um herauszufinden, wo Schwachstellen in den Studien der tabakkritischen Wissenschaftler sind. Sie hat weltweit Wissenschaftler für tabakverharmlosende Forschung bezahlt, darunter fast die ganze frühere Prominenz der deutschen Arbeitsmedizin, viele Lungenärzte, und natürlich auch Spitzenleute aus dem Public Health-Bereich. Sie hat „saubere“ Forschung zu anderen Themen bezahlt, teilweise, um konkurrierende Risiken etwa zu den Herzkreislaufrisiken des Rauchens in den Vordergrund zu rücken, wie Stress in der Industrie, teilweise, um social responsibility aufzubauen. Und sie hat versucht, so zu tun, als würde sie sich ganz besonders für die Qualitätssicherung in der Epidemiologie einsetzen, bis hin zu einer „sound science coalition“ und dem Versuch, etablierte wissenschaftstheoretische Kriterien geschäftszweckdienlich umzudefinieren. Letztendlich ist die Tabakindustrie trotzdem an der Integrität der Wissenschaft gescheitert. Eine epigonenhafte Verfallsform ihres Angriffs auf die Grundlagen der Wissenschaft war die sog. „Brüsseler Erklärung“, da hatte sich die Industrie schon von der Wissenschaft als zentralem Einflussziel entfernt und ganz auf die Bürger gesetzt.
Worum ging es der Tabakindustrie im Kern? In einem Strategiepapier der Tabakindustrie steht wie eine Quintessenz dieser Bemühungen der vielzitierte Satz:
“Doubt is our product since it is the best means of competing with the ‘body of fact’ that exists in the mind of the general public. It is also the means of establishing a controversy.”
Talentierte Nachahmer
Keine andere Industrie hat sich vorher und nachher so tief in den Körper der Wissenschaft bohren können wie die Tabakindustrie. All das ist seit Jahren bekannt und inzwischen in hunderten Publikationen, auch wissenschaftshistorisch, aufgearbeitet worden.
Nebenan bei den Skeptikern ist gerade in einem Kommentar auf ein Papier des „Dialogforums Pluralismus in der Medizin“ verlinkt worden. Das „Dialogforum Pluralismus in der Medizin“ ist vor fast 20 Jahren vom damaligen Präsidenten der Bundesärztekammer Hoppe etabliert worden, um dem damals langsam auch im Versorgungsalltag, also den ärztlichen Einkommensquellen, spürbar werdenden Druck der evidenzbasierten Medizin etwas entgegenzusetzen. 2004 ist beispielsweise das GKV-Modernisierungsgesetz in Kraft getreten. Seitdem gibt es das IQWIG, ein evidenzrotes Tuch nicht nur für die Pharmaindustrie, sondern auch für die Freunde der grenzenlosen ärztlichen Therapiefreiheit. Evidenzbasierung ist ein multiples Geschäftsrisiko im medizinisch-industriellen Komplex.
Das Dialogforum hat bis heute überlebt. Und es ist aktiv. Der „Vorsitzende des Sprecherkreises des Dialogforum Pluralismus in der Medizin“, Prof. Dr. med. Peter F. Matthiessen, hat im Mai eine Stellungnahme online gestellt, die nun auch im Monitor Versorgungsforschung eine Publikations-Plattform gefunden hat. Die Stellungnahme ist ein raffiniert gemachtes Lobby-Papier, unterzeichnet nicht zufällig von professionellen Homöopathie-Lobbyisten wie Cornelia Bajic. Das Frappierende daran sind nicht die hinlänglich bekannten Behauptungen, die Wirksamkeit der Homöopathie sei wissenschaftlich sehr wohl belegt, das Frappierende daran ist vielmehr ein Mehrebenenanschlag auf die Vernunft. Da wird zunächst darauf verwiesen, es gäbe doch RCTs und Metaanalysen, die der Homöopathie Wirksamkeit bescheinigen, man bemüht also klassische Instrumente der evidenzbasierten Medizin. Dann aber entzieht man dieser eben noch zu Hilfe gerufenen Wissenschaft das Vertrauen: Es müsse möglich sein, ein ganz anderes Wissenschaftsverständnis zu pflegen. So als ob die Wissenschaft an sich auch nur eine Schule des wissenschaftlichen Denkens neben anderen sei.
Freiheit statt Wissenschaft?
Aber es kommt noch besser. Unter Rückgriff auf den Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn wird die Wissenschaft an sich nicht nur auf ein „Paradigma“ reduziert, sondern wissenschaftliche Standards werden – wörtlich! – als „totalitäre Ideologie“ denunziert:
„Ein monoparadigmatischer Reduktionismus führt aber – bedacht oder nicht bedacht – am Ende stets in eine totalitäre Ideologie, für die die dogmatische Ideologie alles, der Respekt vor dem Selbststimmungsrecht des Bürgers und der Achtung der Menschenwürde und des individuellen Erkenntnisstrebens nichts bedeutet. Wollen wir eine solche durch totalitäre Strukturen geprägte Entwicklung in unserem Land für die Medizin und das Gesundheitswesen?“
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