In der aktuellen Ausgabe des SPIEGEL (34/2018) sind zwei Beiträge zur Alternativmedizin, einer mit Schwerpunkt Homöopathie, einer zur unheilvollen Rolle der Volkshochschulen bei der Verbreitung von Hokuspokus aller Art. Nebenan bei den Skeptikern wird darüber diskutiert.
Im ersten der Artikel kommt die Sprache auch kurz auf die Heilpraktiker, rund 47.000 seien aktuell in Deutschland tätig, bei etwa einer Milliarde Umsatz jährlich. Ihre Zahl habe sich zwischen 1998 und 2008 mehr als verdoppelt, schreibt Veronika Hackenbroch, die Autorin. Die Diskussion um die Heilpraktiker gehört hier auf Gesundheitscheck inzwischen gewissermaßen zum Inventar. Dabei fällt immer wieder auf, dass man über die Heilpraktiker jenseits anekdotischer Erzählungen und haarsträubender Fälle gar nicht so viel weiß. Weder weiß man, was sie in ihrer Gesamtheit machen, welche Behandlungsverfahren sie anwenden und wie groß der Anteil der Scharlatane unter ihnen ist, noch weiß man so ganz genau, wie viele Heilpraktiker es wirklich gibt. Letzteres hatten wir vor gut drei Jahren hier schon einmal diskutiert, und zwar anhand der Diskrepanz zwischen den Zahlen der Gesundheitspersonalrechnung des Bundes (die auf dem Mikrozensus beruht) und den Meldedaten der bayerischen Gesundheitsämter.
Dabei hat sich herausgeschält, dass man von den Meldedaten der bayerischen Gesundheitsämter nicht einfach bevölkerungsproportional auf gesamtdeutsche Zahlen hochrechnen kann. In Bayern gibt es überproportional viele Heilpraktiker, das bestätigen auch die Mikrozensusdaten, insofern verbietet sich schon deswegen eine einfache Hochrechnung auf Deutschland insgesamt. Diese regionale Verzerrung kann man für eine präzisere Hochrechnung natürlich anhand des Verhältnisses der bayerischen zu den gesamtdeutschen Mikrozensusdaten einfach korrigieren, dennoch liegt auch dann noch die von den bayerischen Meldedaten für Deutschland hochgerechnete Zahl deutlich über der der Gesundheitspersonalrechnung des Bundes.
Hier spielt nun zum einen eine Rolle, dass sich in den Meldedaten der Gesundheitsämter eine unbekannte Zahl an „Karteileichen“ befindet, also Heilpraktiker, die sich zu Beginn ihrer Tätigkeit angemeldet, aber nach Beendigung ihrer Tätigkeit nicht wieder abgemeldet. Dieser Anteil wäre nur durch ein aufwändiges Validierungsprojekt zu ermitteln. Es gibt aber einen zweiten Grund, warum die Zahlen trotzdem nicht übereinstimmen. Im Mikrozensus werden z.B. Personen, die eine Heilpraktikererlaubnis haben, aber nicht als Heilpraktiker tätig sind, nicht also solche erfasst. Ebenso wenig Personen, die eigentlich einen anderen Beruf haben und nur ab und zu ihre Heilpraktikererlaubnis nutzen, das aber nicht als Zweitberuf ansehen und als solchen daher auch nicht im Mikrozensus angeben. Des Weiteren gibt es inzwischen recht viele „sektorale Heilpraktiker“, also Personen, die z.B. eine Ausbildung als Physiotherapeut oder als Podologe haben, oder Psychologie studiert haben, und über eine auf das jeweilige Gebiet eingeschränkte Heilpraktikererlaubnis verfügen. Physiotherapeuten können auf diese Weise unabhängig von einer ärztlichen Überweisung arbeiten, und Psychologen, die aus irgendwelchen Gründen keine Approbation haben, dennoch Psychotherapie ausüben. Diese Leute sind dann nicht Heilpraktiker im Zweitberuf, sondern im Erstberuf, werden aber zumeist im Mikrozensus bei den Physiotherapeuten, Podologen, Psychotherapeuten etc. mitgezählt und nicht bei den Heilpraktikern. Insofern unterschätzt die Gesundheitspersonalrechnung die Zahl der Heilpraktiker in unbekanntem Umfang.
Worauf Veronika Hackenbroch zu Recht hinweist, ist die starke Zunahme der Zahlen. Und hier stimmen dann auch die Daten der Gesundheitspersonalrechnung des Bundes und die bayerischen Meldedaten gut überein. In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Heilpraktiker mehr als verdreifacht. Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum hat die Zahl aller Ärzte um 34 % zugenommen, die der ärztlich tätigen Ärzte um 28 % und die der Kassenärzte sogar nur um 15 %.
Die 91. Gesundeitsministerkonferenz hat 2018 mehrheitlich – gegen die Stimme Bayerns – beschlossen:
Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Gesundheit sehen eine zwingende Reformbedürftigkeit des Heilpraktikerwesens. Der Bund wird gebeten, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, die eine grundlegende Reform des Heilpraktikerwesens prüft. Das Ergebnis der Prüfung soll bis zur 92. GMK 2019 vorgelegt werden.
Das erste, was eine solche Arbeitsgruppe machen sollte, wäre m.E., sich einen Überblick über ihr Thema zu verschaffen, z.B. wie viele Heilpraktiker es gibt, wie viele darunter eine sektorale Erlaubnis haben, in welchem Zeitumfang diese Gruppen tätig sind, was sie konkret tun, was davon evidenzbasiert ist, was nicht evidenzbasiert ist, aber akzeptabel (z.B. viele naturheilkundliche Anwendungen), was harmlose und was gefährliche Scharlatanerie ist, welche Patienten mit welchen Beschwerden und Vorbehandlungen sie haben, welche Fortbildungen sie besuchen und was dort vermittelt wird usw. Ohne solche Informationen wird man eine „grundlegende Reform des Heilpraktikerwesens“ nicht gegen die Lobby durchsetzen können, egal für wie „zwingend“ man die Reformbedürftigkeit hält. Und auch bei diesem Thema wird man über die Handlungsfähigkeit der Gesundheitsämter nachdenken müssen: Eine effektive Medizinalaufsicht gibt es nicht zum Nulltarif.
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