Der Samstagsessay im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung ist diesmal von Nikolaus Piper, in der Printausgabe betitelt mit „Der falsche Feind“. Piper ist gelernter Volkswirt und einer der wirtschaftsliberalen Hausgeister der Süddeutschen. In seinem Beitrag gratuliert er dem Neoliberalismus zum 80. Geburtstag und sieht ihn in der Tradition des Widerstands gegen den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts. Neoliberalismus sei liberales Denken, und nie, auf keinen Fall irgendwie schuld am Aufkommen des Rechtspopulismus der Gegenwart:
„Tatsächlich ist der Populismus eine Reaktion auf den Veränderungsstress, dem alle modernen Industriegesellschaften ausgesetzt sind: Digitalisierung, der Aufstieg Chinas als Handelsmacht, demografischer Wandel und, an erster Stelle, Migration. Mit Neoliberalismus hat das alles wenig zu tun.“
Piper setzt mit seinem Gedankengang im Jahr 1938 an, als sich in Paris beim „Colloque Walter Lippmann“ Liberale unterschiedlicher Strömungen trafen, um über die damalige Krisen in der Welt zu diskutieren. Dort wurde der Begriff „Neoliberalismus“ aus der Taufe gehoben, weil man den alten Liberalismus und insbesondere auch sein Laissez-Faire-Denken als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung ansah.
Was Piper nicht sagt: Wenn wir heute über „Neoliberalismus“ sprechen, ist genau jenes wiedererstarkte Laissez-Faire-Denken gemeint, das seit den 1980er Jahren den Mainstream des politischen und ökonomischen Denkens prägt. Hier wäre eher die Mont Pèlerin Society der richtige Bezugspunkt gewesen, eine Runde, die 1947 von Friedrich v. Hayek ins Leben gerufen wurde und von der sich z.B. die Ordoliberalen Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow schnell wieder trennten. Die Mont Pèlerin Society ist einer der frühen neoliberalen Think Tanks, die für einen radikalen Rückbau des Staates eintraten. Den Verein gibt es bis heute. Weniger einflussreich, aber nicht weniger marktradikal ist die 1998 gegründete Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, aus der 2015 selbst Leute wie der FDP-Chef Lindner oder der Ex-BdI-Chef Henkel austraten: Weil sie zu sehr nach rechts abgedriftet sei. AfD-Leute wie Frau v. Storch oder Alice Weidel fühlen sich dagegen wohl dort.
All das kommt bei Piper nicht zur Sprache. Er sieht „den Neoliberalismus“ schlicht als historischen Erfolg. Sein Beleg:
“Wer will in die Zeiten zurück, in denen man sein Telefon beim Staatsmonopolisten Deutsche Bundesport ‚beantragen‘ musste, das grau war, von Siemens kam und fest mit der Buchse verbunden war? Wer wollte rechtspopulistisch werden, weil es mehrere Handyanbieter gibt?“
Eine solche Charakterisierung des neuen Neoliberalismus ist an Geschmacklosigkeit und Zynismus kaum mehr zu übertreffen. Natürlich will keiner in die Zeiten der Wählscheibentelefone der Bundespost zurück. Aber der neue Neoliberalismus steht für etwas anderes:
“Der Neoliberalismus ist zunächst einmal eine Theorie politisch-ökonomischen Handelns, die davon ausgeht, dass man den Wohlstand der Menschen optimal fördert, indem man die individuellen unternehmerischen Freiheiten und Fähigkeiten freisetzt (…). Die Rolle des Staates besteht darin, einen institutionellen Rahmen zu schaffen und zu erhalten, der solchem Wirtschaftshandeln angemessen und förderlich ist. Zum Beispiel muss der Staat die Qualität und allgemeine Akzeptanz des Geldes garantieren und auch die nötigen militärischen, polizeilichen und rechtlichen Strukturen (…) gewährleisten, die das (…) einwandfreie Funktionieren der Märkte sicherstellen, zur Not auch mit Gewalt. Mehr noch: Wo noch keine Märkte existieren – etwa für Grund und Boden, Wasser, Erziehung, Gesundheitsversorgung, Sozialversicherung oder Umweltverschmutzung – sollen sie geschaffen werden (…).“ (David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich 2008: 8)
Märkte sind erstens nicht die Lösung für alle Verteilungsprobleme, z.B. weil in manchen Fällen der „Marktaustritt“ nichtzahlungsfähiger Akteure Elend, Krankheit und Tod bedeutet, zweitens brauchen Märkte auch da, wo sie passen, zielgerichtete Rahmenbedingungen. Darauf haben Ordoliberale zu Recht insistiert. Sonst kann eine privatisierte kommunale Wasserversorgung auch verrotten, zieht sich die Bahn aus der Fläche zurück, fällt die Flexibilität am Arbeitsmarkt einseitig zugunsten der Unternehmen aus, werden knappe Lebensmittel in der Dritten Welt zu Spekulationsobjekten, steigen die Wohnkosten ins Unermessliche, müssen Banken mit Milliarden vor den Folgen ihrer unregulierten Geschäfte gerettet werden, externalisieren die Betriebe ihre Umweltkosten hemmungslos zulasten der Allgemeinheit oder gibt es wie in den USA eine gute Gesundheitsversorgung nur für die, die es sich leisten können. Die, die dabei hinten runter fallen und in der Erfolgsgesellschaft nicht mehr gesehen werden, geben heute den Populisten ihre Stimme – und diese angeblich den Unsichtbaren ihre: „I am your voice“.
Der „Veränderungsstress, dem alle modernen Industriegesellschaften ausgesetzt sind“ (Piper) hat sicher viele Gründe, wie auch der Rechtspopulismus. Aber dass das alles mit dem Neoliberalismus wenig zu tun hat, ist eine Weltanschauung, die Realität interessengeleitet ausblendet, also Ideologie. Piper kommt zwar selbst kurz auf die sozialen Verwerfungen der neoliberalen „Reformen“ zu sprechen, die ausgehend von Reagans USA und Thatchers Großbritannien seit mehr als 30 Jahren die westliche Welt durchdrungen haben, aber er zieht daraus keinerlei Schlussfolgerung. Dabei hätte er bei seinem Rückblick auf die 1930er Jahre durchaus einen guten Rat finden können. Aus der Zeit stammt auch ein berühmtes Zitat von Max Horkheimer, einem der Vertreter der „Frankfurter Schule“: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“
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