Vor kurzem hatten wir hier über einen Essay des SZ-Journalisten Nikolaus Piper über die Gründe des Rechtspopulismus diskutiert. In der soziologischen und politikwissenschaftlichen Literatur wird dazu häufig auf den Neoliberalismus und seine Produktion von Gewinnern und Verlierern in einem intensivierten Wettbewerb verwiesen. Pipers These war dagegen, dass man mit dem Neoliberalismus auf jeden Fall den falschen Feind ins Visier nehme. Eine ganz ähnliche Sicht vertritt der Religionswissenschaftler Michael Blume, in dessen Blog nebenan bei den Scilogs diese Ursachenfrage ebenfalls aufkam.
Ein Argument Blumes daraus will ich kurz aufgreifen, weil es eine interessante Sicht auf das Phänomen der Angst beinhaltet. Blume schreibt in einem Kommentar:
Die „Erklärung über ‚Abstiegsängste‘ finde ich auch viel überzeugender als jene über ‚Neoliberalismus‘. Denn Ängste werden von Wahrnehmungen und Medien mitgeprägt und können auch Menschen erfassen, denen es objektiv gut geht. Dies vermag m.E. auch besser zu erklären, warum die rechtspopulistischen Parteien anfangs häufig staatskritisch-libertäre Positionen vertraten und in der AfD bis heute völlig konträre Positionen z.B. zur Rente aufeinander prallen. Lägen die Gründe für den Populismus in materiellen, ‚neoliberalen‘ Gegebenheiten, so wären einheitlichere Antworten zu erwarten.“
Warum ist das so interessant? Blume trennt hier Angst von „materiellen Gegebenheiten“ ab. „Wahrnehmungen“ und „Medien“ können seiner Meinung nach zwar Abstiegsängste mitprägen, aber diese Wahrnehmungen können sich demnach nicht auf „materielle Gegebenheiten“ beziehen. Dass der Neoliberalismus nicht nur eine “materielle Gegebenheit”, sondern vor allem auch eine Form des Denkens ist, sei einmal dahingestellt.
Dem Phänomen Angst kann man sich auf ganz verschiedenen Ebenen nähern. In der Psychologie geht es um z.B. um die evolutionäre Funktion von Angst (als Mobilisierung von Fluchtmechanismen) oder um übersteigerte Ängste, d.h. Angststörungen. Eine von „materiellen Gegebenheiten“ weitgehend losgelöste Angst kennt die Psychologie nur bei extremen Störungsbildern, z.B. paranoiden Störungen, hier ist die subjektive Funktionalität der Angst nicht einfach als angemessene emotionale Bewertung der Realität zu verstehen. Davon abgesehen, ist der Bezug der Angst auf die Wahrnehmung der Welt konstitutiv, und natürlich schließt das die „materiellen Gegebenheiten“ ein. Menschen schauen ja nicht nur Youtube und richten ihre Emotionen allein danach aus.
Eine andere Ebene ist die soziologische Angstforschung. Speziell zu Abstiegsängsten gibt es inzwischen viel empirische Forschung. Die Sektion „Soziale Indikatoren“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hat das Thema 2017 auf ihrer Jahrestagung 2018 diskutiert. Ob Abstiegsängste zugenommen haben und wen sie umtreiben, ist nämlich gar nicht so klar. Dabei zeigen neuere Studien, dass Abstiegsängste je nach sozialer Lage unterschiedlich verankert sind. Vor allem bei Menschen mit einem halbwegs sicheren Arbeitsplatz beziehen sie sich mehr auf wahrgenommene Veränderungen innerhalb der Erwerbstätigkeit als auf die Angst vor Arbeitslosigkeit. Im Prinzip ja auch nicht sonderlich verwunderlich.
Bettina Kohlrausch, Professorin für Bildungssoziologie an der Uni Paderborn, die empirisch zu dem Thema forscht, sieht für eine rein kulturalistische Deutung von Abstiegsängsten, also der These, es handle sich allein um Verunsicherungen aufgrund kultureller Veränderungen (Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen, Erfahrung fremder Kulturen, Medientrends usw.), keine empirische Belege. Sie schreibt im abstract ihres Tagungsbeitrags, gestützt auf ihre empirischen Befunde:
„In Abgrenzung zu dieser Deutung ist die erste leitende These des Plenarbeitrages, dass materielle Sorgen durchaus einen signifikanten Effekt auf die Bereitschaft haben, AfD zu wählen. Jedoch spielt für die Zustimmung zu rechtspopulistischen Deutungsmustern weniger die konkrete Erfahrung sozialer Ausgrenzung oder des sozialen Abstiegs eine Rolle, sondern vielmehr die Angst davor. Die zweite leitende These ist, dass das Gefühl vom sozialen Abstieg bedroht zu sein auf konkreten materiellen Erfahrungen beruht und weite Teile der Bevölkerung betrifft. Der Arbeitskontext als Erfahrungsraum spielt für die Entstehung von Abstiegsängsten – und in der Konsequenz auch einer hohen Affinität zu rechtspopulistischen Deutungsmustern – eine zentrale Rolle.“
Nur nebenbei bemerkt: Auch die kulturalistische These, die z.B. von Holger Lengfeld, Professor für Soziologie an den Uni Leipzig vertreten wird, würde natürlich eine Mitverantwortung neoliberaler Politik für den Rechtspopulismus nicht widerlegen, im Gegenteil, viele der in dort angesprochenen kulturellen Veränderungen sind ja durch den Neoliberalismus, etwa die Globalisierung und die damit einhergehende Infragestellung traditionaler Kulturen, befördert worden. Um es etwas platt zu sagen: Auch wenn man den Neoliberalismus aufgrund seiner Gewinner-Verlierer-Dynamik kritisiert, heißt das nicht, dass er nicht auch positive Veränderungen angestoßen hat. Aber das, wie gesagt, nur nebenbei.
Angst ist also kein von der Realität losgelöstes, rein innerpsychisches Phänomen, sondern immer auf die Wahrnehmung der Welt bezogen. Die Frage ist, wie realitätsangemessen mit dieser Wahrnehmung umgegangen wird, wie sie subjektiv verarbeitet wird und wie sie kulturell verarbeitet wird und welche ideologischen Aspekte dabei eine Rolle spielen. Löst man Ängste jedoch von der Wahrnehmung der Realität ab, macht man eigentlich das, worunter Menschen mit Angststörungen leiden: man gewichtet die innerpsychische Dynamik in unangemessener Weise, mit anderen Worten, man psychologisiert gesellschaftliche Probleme.
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