Vor kurzem hatten wir hier über einen Essay des SZ-Journalisten Nikolaus Piper über die Gründe des Rechtspopulismus diskutiert. In der soziologischen und politikwissenschaftlichen Literatur wird dazu häufig auf den Neoliberalismus und seine Produktion von Gewinnern und Verlierern in einem intensivierten Wettbewerb verwiesen. Pipers These war dagegen, dass man mit dem Neoliberalismus auf jeden Fall den falschen Feind ins Visier nehme. Eine ganz ähnliche Sicht vertritt der Religionswissenschaftler Michael Blume, in dessen Blog nebenan bei den Scilogs diese Ursachenfrage ebenfalls aufkam.

Ein Argument Blumes daraus will ich kurz aufgreifen, weil es eine interessante Sicht auf das Phänomen der Angst beinhaltet. Blume schreibt in einem Kommentar:

Die „Erklärung über ‚Abstiegsängste‘ finde ich auch viel überzeugender als jene über ‚Neoliberalismus‘. Denn Ängste werden von Wahrnehmungen und Medien mitgeprägt und können auch Menschen erfassen, denen es objektiv gut geht. Dies vermag m.E. auch besser zu erklären, warum die rechtspopulistischen Parteien anfangs häufig staatskritisch-libertäre Positionen vertraten und in der AfD bis heute völlig konträre Positionen z.B. zur Rente aufeinander prallen. Lägen die Gründe für den Populismus in materiellen, ‚neoliberalen‘ Gegebenheiten, so wären einheitlichere Antworten zu erwarten.“

Warum ist das so interessant? Blume trennt hier Angst von „materiellen Gegebenheiten“ ab. „Wahrnehmungen“ und „Medien“ können seiner Meinung nach zwar Abstiegsängste mitprägen, aber diese Wahrnehmungen können sich demnach nicht auf „materielle Gegebenheiten“ beziehen. Dass der Neoliberalismus nicht nur eine “materielle Gegebenheit”, sondern vor allem auch eine Form des Denkens ist, sei einmal dahingestellt.

Dem Phänomen Angst kann man sich auf ganz verschiedenen Ebenen nähern. In der Psychologie geht es um z.B. um die evolutionäre Funktion von Angst (als Mobilisierung von Fluchtmechanismen) oder um übersteigerte Ängste, d.h. Angststörungen. Eine von „materiellen Gegebenheiten“ weitgehend losgelöste Angst kennt die Psychologie nur bei extremen Störungsbildern, z.B. paranoiden Störungen, hier ist die subjektive Funktionalität der Angst nicht einfach als angemessene emotionale Bewertung der Realität zu verstehen. Davon abgesehen, ist der Bezug der Angst auf die Wahrnehmung der Welt konstitutiv, und natürlich schließt das die „materiellen Gegebenheiten“ ein. Menschen schauen ja nicht nur Youtube und richten ihre Emotionen allein danach aus.

Eine andere Ebene ist die soziologische Angstforschung. Speziell zu Abstiegsängsten gibt es inzwischen viel empirische Forschung. Die Sektion „Soziale Indikatoren“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie hat das Thema 2017 auf ihrer Jahrestagung 2018 diskutiert. Ob Abstiegsängste zugenommen haben und wen sie umtreiben, ist nämlich gar nicht so klar. Dabei zeigen neuere Studien, dass Abstiegsängste je nach sozialer Lage unterschiedlich verankert sind. Vor allem bei Menschen mit einem halbwegs sicheren Arbeitsplatz beziehen sie sich mehr auf wahrgenommene Veränderungen innerhalb der Erwerbstätigkeit als auf die Angst vor Arbeitslosigkeit. Im Prinzip ja auch nicht sonderlich verwunderlich.

Bettina Kohlrausch, Professorin für Bildungssoziologie an der Uni Paderborn, die empirisch zu dem Thema forscht, sieht für eine rein kulturalistische Deutung von Abstiegsängsten, also der These, es handle sich allein um Verunsicherungen aufgrund kultureller Veränderungen (Gleichberechtigung von Frauen und Homosexuellen, Erfahrung fremder Kulturen, Medientrends usw.), keine empirische Belege. Sie schreibt im abstract ihres Tagungsbeitrags, gestützt auf ihre empirischen Befunde:

„In Abgrenzung zu dieser Deutung ist die erste leitende These des Plenarbeitrages, dass materielle Sorgen durchaus einen signifikanten Effekt auf die Bereitschaft haben, AfD zu wählen. Jedoch spielt für die Zustimmung zu rechtspopulistischen Deutungsmustern weniger die konkrete Erfahrung sozialer Ausgrenzung oder des sozialen Abstiegs eine Rolle, sondern vielmehr die Angst davor. Die zweite leitende These ist, dass das Gefühl vom sozialen Abstieg bedroht zu sein auf konkreten materiellen Erfahrungen beruht und weite Teile der Bevölkerung betrifft. Der Arbeitskontext als Erfahrungsraum spielt für die Entstehung von Abstiegsängsten – und in der Konsequenz auch einer hohen Affinität zu rechtspopulistischen Deutungsmustern – eine zentrale Rolle.“

Nur nebenbei bemerkt: Auch die kulturalistische These, die z.B. von Holger Lengfeld, Professor für Soziologie an den Uni Leipzig vertreten wird, würde natürlich eine Mitverantwortung neoliberaler Politik für den Rechtspopulismus nicht widerlegen, im Gegenteil, viele der in dort angesprochenen kulturellen Veränderungen sind ja durch den Neoliberalismus, etwa die Globalisierung und die damit einhergehende Infragestellung traditionaler Kulturen, befördert worden. Um es etwas platt zu sagen: Auch wenn man den Neoliberalismus aufgrund seiner Gewinner-Verlierer-Dynamik kritisiert, heißt das nicht, dass er nicht auch positive Veränderungen angestoßen hat. Aber das, wie gesagt, nur nebenbei.

Angst ist also kein von der Realität losgelöstes, rein innerpsychisches Phänomen, sondern immer auf die Wahrnehmung der Welt bezogen. Die Frage ist, wie realitätsangemessen mit dieser Wahrnehmung umgegangen wird, wie sie subjektiv verarbeitet wird und wie sie kulturell verarbeitet wird und welche ideologischen Aspekte dabei eine Rolle spielen. Löst man Ängste jedoch von der Wahrnehmung der Realität ab, macht man eigentlich das, worunter Menschen mit Angststörungen leiden: man gewichtet die innerpsychische Dynamik in unangemessener Weise, mit anderen Worten, man psychologisiert gesellschaftliche Probleme.

Kommentare (24)

  1. #1 Alisier
    19. September 2018

    Ich danke für diesen aus meiner Sicht sehr wichtigen Post, und würde trotzdem gerne ein wenig widersprechen. Später.
    Eines schon vorweg: Die Angst vor allem Fremden und/oder vor einer Hautfarbe, die der eigenen unähnlich ist, dürfte ausschließlich innerpsychischer Dynamik geschuldet sein. Es ist dann freilich immer noch Angst, und als solche ernstzunehmen. Der Bezug zur Realität dürfte allerdings in den allermeisten Fällen völlig fehlen.

  2. #2 Fluffy
    19. September 2018

    Die Bekämpfung fremder Gruppen, anderer Ethnien, anderer Religionen ist keine Frage einer individuellen Angst.

    Die Angst vor allem Fremden und/oder vor einer Hautfarbe, die der eigenen unähnlich ist, dürfte ausschließlich innerpsychischer Dynamik geschuldet sein

    ist Ausdruck einer subjektiv idealistischen Betrachtungsweise der Gesellschaft. Es wäre es wert einen materialistischen Maßstab im Sinne von Das Sein bestimmt das Bewusstsein anzulegen.

  3. #3 Alisier
    19. September 2018

    Im Sinne von
    “Die arme S.. hat einen so schwierigen Hintergrund, der hatte gar keine andere Möglichkeit als Rassist zu werden”, Fluffy?
    Marx in Ehren, aber erstmal bleibt das Zitat nur ein Spruch, der Wirklichkeit extrem reduziert.

  4. #4 RPGNo1
    19. September 2018

    Peter Tauber hat keine Angst vor Fremden:

    “Mir wäre viel lieber, man darf sich als stolzer Teil unserer Nation fühlen, nicht wenn man Urgroßeltern aus der Altmark oder dem Vogelsberg vorweisen kann, sondern wenn man diesem Land dient, fleißig ist, Steuern zahlt, sich an Recht und Gesetz hält, sich im Ehrenamt engagiert und sich gut um seine Nächsten kümmert. Das macht für mich viel mehr einen guten Bürger aus, und das sollte unser Maßstab sein.”

    https://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-gastbeitrag-von-peter-tauber-zur-migration-a-1228462.html

    Für diesen Beitrag erhält er meinen Applaus.

  5. #5 noch'n Stephan
    19. September 2018

    @RPGNo1

    Wirklich sehr toller Gastbeitrag von Peter Tauber. Danke für den Link

  6. #6 Wetterwachs
    19. September 2018

    Herr Blume ist gewiss jemand, mit dem ich untergehakt und verbunden gegen Nazis kämpfen (argumentieren, demonstrieren, feiern) würde. Mit ihm aber über Neoliberalismus zu diskutieren, würde ich mir sparen.
    Über Neoliberalismus diskutieren führt immer irgendwie zu Fragen sozialer Gerechtigkeit und dann über den Abschweif der psychologischen Innenschau (Abstiegängste,Identitätsprobleme) ganz schnell zu der These, dass es gegen Nazis auch nicht helfen würde, wenn all die dummen ungebildeten Idioten bezahlbare Wohnungen, gute Schulen für ihre Kinder, gute Pflege für ihre Eltern usw. hätten.
    Und damit ist in der Regel die Frage der sozialen Gerechtigkeit mal wieder in die Ecke linker Ideologie verbannt und vom politisch-intellektuellen Stammtisch eliminiert.
    Ein monokausal verblendeter Horkheimer-Urenkel würde heute vielleicht sagen:
    „Wer von sozialer Gerechtigkeit nicht reden will, sollte auch vom Widerstand gegen Nazis die Klappe halten.“
    Ich würde ihm nicht zustimmen. Aber ich würde schon gerne fragen, ob soziale Gerechtigkeit erst dann eine vorrangige Aufgabe einer Demokratie sein darf, wenn das rechtsradikale Lumpenpack besiegt ist.

  7. #7 Alisier
    19. September 2018

    @ RPGNo1

    Naja, “stolzer Teil unserer Nation” klingt für mich dann doch zu schräg…….bei den vertretenen Werten stimme ich Tauber aber gerne zu.

  8. #8 Fluffy
    19. September 2018

    …dass es gegen Nazis auch nicht helfen würde, wenn all die dummen ungebildeten Idioten…

    Die Zahl all der klugen gebildeten Idioten ist deutlich größer und gefährlicher.

  9. #9 Wetterwachs
    19. September 2018

    @Fluffy
    “Die Zahl all der klugen gebildeten Idioten ist deutlich größer und gefährlicher.”

    Gefährlicher auf jeden Fall, da hast Du recht.
    “Die dummen ungebildeten Idioten” hätten in meinem Kommentar in Anführungszeichen gehört.
    Ich wollte darauf hinweisen, dass meiner Meinung nach Diskussionen über soziale Gerechtigkeit abgewiegelt werden können, indem man vermutet, dass dumme Nazis auch in sozialer Gerechtigkeit dumme Nazis bleiben und die Frage der sozialen Gerechtigkeit somit in einer Demokratie zweitrangig ist hinter der Frage, wie man die Nazis bekämpft.

  10. #10 RPGNo1
    19. September 2018

    @Alisier
    Stolz ist nicht per se etwas Schlechtes, auch wenn dieser Begriff immer wieder in der Vergangenheit missbraucht worden ist und auch heute wieder von so einigen braunblauen Gruppierungen missbraucht wird. Ich bin z.B. stolz auf die Arbeit, die ich leiste, denn sie ist letztendlich ein kleiner Beitrag dazu, dass lebenswichtige Medikamente korrekt auf den Markt kommen und Menschen somit geholfen werden kann.

    Insofern finde ich die Aussage “stolzer Teil unserer Nation” gar nicht so schlecht, auch wenn sie in manchen Ohren ein wenig pathetisch klingen mag.

  11. #11 Alisier
    19. September 2018

    “Nation” war eher mein Problem…….

  12. #12 noch'n Stephan
    19. September 2018

    “Nation” ist aber genauso mehrdeutig wie der Begriff “Stolz”. Peter Tauber scheint dabei eine sehr offene Vorstellung einer Nation zu haben, vielleicht eher im Sinne von “Gemeinwesen”. In dem Kontext seines Beitrages sehe ich kein Problem mit dem Begriff

  13. #13 Withold Ch.
    19. September 2018

    Bildlich gesprochen – und damit dem Blog ja angemessen – kommt es einem so vor, als würde immer noch über die Art und Funktionsweise des Fieberthermometers gestritten, während die Temperatur des Patienten steigt und steigt.

    Obwohl doch eigentlich kurzfristig nur zwei Therapien erfolgversprechend sein dürften: Kräftige Lohnerhöhungen, die den Beschäftigen sofort zu gute kämen, oder höhere Steuern, vor allem auf automatisierte und mit Robotik betriebene Produktionsanlagen, die dann später als Transferleistung wie ein lauer Frühlingsregen auf das Volk niederginge.

    Gegen ersteres sträuben sich naturgemäss die “Bosse” mit allen möglichen Ausreden, vor allem der eines Verlusts von Wettbewersfähigkeit, und vor letzterem scheuen sich die Regierungsparteien aus Angst vor Machtverlust und aus opportunistischen Gefühlen der Verbundenheit zu den “Bossen”.

    Ein wichtiges Neben-Element diese “Abstiegsängste” dürfte auch der ausbreitenden Verzweiflung darüber geschuldet sein, zwar noch ein in den schönsten Farben und Tönen ausgemaltes und realiter noch nie dagewesenes Konsumparadies vorgespiegelt zu bekommen, aber zum Eintreten und Geniessen dann schlicht nicht mehr mit genügend Chips ausgerüstet zu sein.

    Was aktuell zu beobachten ist, könnte als Placebo-Therapie bezeichnet werden, sozusagen mit Polit-Globuli, ganz homöpathisch in immer höheren Verschüttelungen, zB Homo migrans D 100 (… es kommen ja fast keine mehr …) – wobei wir doch alle wissen, dass die Hauptursache für die weltweite Misere höchstwahrscheinlich in der ungleichen und ungerechten Verteilung von Besitz, Gütern und Vermögen liegt.

  14. #14 NorbertN
    19. September 2018

    Es gibt nicht nur die Angst vor dem Abstieg, meine Angst ist es mein Fahrrad zu verlieren.
    Früher habe ich mein Fahrrad immer drausen gelassen und nie abgesperrt, hat keiner geklaut.
    Jetzt habe ich alleine in den letzten fünf Jahren zwei Fahrräder verloren, obwohl sie abgesperrt waren und ein weiteres wurde so demoliert, das Vorder und Hinterrad einen Achter hatten. Alle meine Fahrräder sind 0815 Fahrräder und waren nie teuer.

    Ich war bei der Polizei um den Schaden aufzunehmen, der Polizist auch ein begeisterter Radfahrer hat mir gleich jede Hoffnung genommen, das Fahrrad werde ich nicht mehr sehen. Er hat mir empfohlen das nächste Rad zu versichern.

    Das alles kann natürlich auch ein Zufall sein, vielleicht hatte ich früher einfach mehr Glück als heute, aber die Angst bleibt da. Ich lasse jetzt mein Rad abends nicht mehr drausen, sondern fahre mit dem PKW.

  15. #15 DH
    19. September 2018

    Stimme Wetterwachs zu, Michael Blume schreibt bei so manches Lesenswerte, aber bei diesem Thema argumentiert er unterkomplex.
    Der Aufwand, nicht abzusteigen, wird immer größer, Arbeitsverdichtung, schlechte Arbeitsbedingungen und Betriebsklimata, usw.
    Das Ergebnis des Abstiegs kann Drangsalierung sein durch restrektive Arbeitsmarktgesetze, was Arbeitgeber wissen und Arbeitnehmer erpressbar macht.
    Es gibt eine immer größere Fixierung auf Arbeit, was die Lebensqualität aller kostet, auch die der Profiteure, deren Gier längst suchtartige Formen annimmt.
    Der Arbeitswahn zerstört die Umwelt.
    Arbeitswahn begünstigt eine breite Minderheit, die ihr Leben beschränkt auf das tägliche Rattenrennen um Status und Hierarchien.
    Arbeitswahn führt zu Lobbymacht und Demokratiezerstörung.
    Der finanzielle Freiraum wirkt stark hinein in kulturelle Fragen. Wer nicht ständig unter Druck steht, was Knappheit angeht, oder bei der Erhaltung besserer Finanzen, hat auch mehr Spielraum zur Selbsthilfe bei kulturellen Problemen.
    Im Moment wird dem gegeben, der schon hat, das gilt sowohl für Finanzen als auch für Benachteiligungen.

  16. #16 Wetterwachs
    19. September 2018

    Letzter Satz aus dem Post:
    “Löst man Ängste jedoch von der Wahrnehmung der Realität ab, macht man eigentlich das, worunter Menschen mit Angststörungen leiden: man gewichtet die innerpsychische Dynamik in unangemessener Weise, mit anderen Worten, man psychologisiert gesellschaftliche Probleme.”

    Und nicht mal das macht man konsequent. Wenn Psychologen eine Angsstörung diagnostizieren und feststellen müssen, dass der Patient in seiner materiell unbegründeten Angst heraus eine Gefahr für sich selbst und/oder andere darstellt (stalkt, pöbelt, randaliert, zündelt, gefährdet die allgemeine Sicherheit, veranstaltet Hetzjagden usw) dann beantragt er die Genehmigung zur Unterbringung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.
    Macht man aber nicht, weil man bliebe ja bei Schritt eins “Diagnose: Gefährlicher Psychopath” stecken, weil soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen – “die beste evidenzbasierte Therapie (Schritt zwei)” – für jeden, auch wenn er keine Knete hat – angeblich nicht bezahlbar ist, weil es einfach zu viele angstgestörte Psychos gibt, was allerallerallerspätestens nach Chemnitz nur noch die Psychos selber, die AfD, Seehofer und der Bundesverfassungsschutz zu bezweifeln wagen.

    • #17 Joseph Kuhn
      20. September 2018

      @ Wetterwachs:

      Vielleicht noch etwas anders nuanciert: Wenn man gesellschaftliche Probleme psychologisiert und individualisiert, scheint auch nur auf der psychologisch-individuellen Ebene Handlungsbedarf zu bestehen. Die Leute sollen aus ihren Filterblasen herauskommen und “Medienkompetenz” entwickeln, sich anständig benehmen, nicht randalieren, nicht mit den Rechten demonstrieren und nicht AfD wählen. Das ist sicher alles richtig, aber nur Kurieren am Symptom. Dass die neoliberalen Jahre bei allem Wohlstandsgewinn “im Durchschnitt” eben auch viel Ungleichheit, Verlierer-Gewinner-Erfahrungen, Angst vor Abstieg usw. gebracht haben, dass vielfach öffentliche Daseinsvorsorge vom Wohnen in Ballungsräumen über die Bildung bis zur menschenwürdigen Pflege mangelhaft ist, teilweise schlechter geworden ist, bleibt außen vor.

  17. #18 Alisier
    20. September 2018

    Danke für die Vorlage, Joseph.
    Ich wehre mich inzwischen öfters dagegen, das Monster “Neoliberalismus” für alles Mögliche verantwortlich zu machen. Es sind wir alle, die diese Situation mit zu verantworten haben, auch weil wir das System mit unserem Verhalten stützen und am Leben erhalten.
    Ich kann dieses “Die da oben!” wirklich nicht mehr hören (Disclaimer: ich unterstelle Dir nicht, dass Du so argumentierst).
    Bei Kritik am Neoliberalismus dürfen wir uns ruhig auch mal selbst an die eigene Nase fassen.
    Ich nehme mal die menschenunwürdige Pflege als Beispiel: früher lag die Pflege in den Händen der Familie, und zwar fast ausschließlich in den Händen der nicht berufstätigen Frauen. Und das war nicht besonders fair, aus meiner Sicht. Es sind, auch aufgrund heftiger gesellschaftlicher Umwälzungen in vielen Bereichen völlig neue Situationen und Konstellationen entstanden, auf die einfach noch keine sinnvollen und guten Antworten gefunden wurden.
    “Früher war alles besser” stimmt einfach nicht, und das gilt im Übrigen auch für die Bildung. Man kann sich z.B. als Eltern viel mehr als üblich für die Bildung der eigenen Kinder interessieren und engagieren, und dieses Engagement durchaus auf andere Kinder und Menschen ausdehnen. Auf den Staat zu warten fiele mir ja im Traum nicht ein.
    Für bessere Rahmenbedingungen zu kämpfen, so dass Engagement vielfältig honoriert wird sollte sich aber lohnen.
    Was sehen wir aber zunehmend? Eltern, die ihre Kinder gerne in Ganztagsbetreuung sähen, damit sie Häuschen und Auto abbezahlen können. Das Verhalten vage dem Neoliberalismus zuzuschreiben halte ich für nicht zielführend.
    Und jetzt mache ich kurz Pause und gehe zum Gartenprojekt an der nahen Grundschule, bei dem auch ökologisches Grundwissen vermittelt wird. Das Projekt habe ich mit initiiert, ohne dass meine Kinder dort sind.
    Ohne Engagement geht gar nichts, und nach dem alles organisierenden Staat zu rufen ist mir sehr fremd.

    • #19 Joseph Kuhn
      20. September 2018

      @ Alisier:

      Ich verstehe ehrlich gesagt nicht, was Du sagen willst und was das mit dem Thema des Blogs zu tun hat.

      Dass „früher alles besser war“ hat keiner behauptet, dass der Staat alles regeln soll und wir keinen Grund hätten, uns „an die eigene Nase zu fassen“ auch nicht. Im Gegenteil. Und nein, der Neoliberalismus ist auch nicht „an allem schuld“. Schon gar nicht am Wetter.

  18. #20 Elektriker
    20. September 2018

    NorbertN: “Früher habe ich mein Fahrrad immer drausen gelassen und nie abgesperrt, hat keiner geklaut.
    Jetzt habe ich alleine in den letzten fünf Jahren zwei Fahrräder verloren, obwohl sie abgesperrt waren…”

    Ich habe Anfang der 80´er Jahre in fünf Jahren fünfmal mein Fahrrad durch Diebstahl b´verloren, bwohl es abgeschlossen war.

    Ergo: Da Sie ein singuläres Ereignis als allgemeingültig hinstellen: Das Risiko eines Fahrraddiedstahls hat sich seit den letzten 35 Jahren um 60 % reduziert.

    Da Sie die pösen Ausländer implizit verantwortlich machen, kann man also auch sagen: Durch die Zunahme der Ausländer hat sich die Deutschen-Kriminalität streng reduziert. Ausländer machen also unser Land sicherer.

    Tja, Alisier, sie sehen falsch:

    Was sehen wir aber zunehmend? Eltern, die ihre Kinder gerne in Ganztagsbetreuung sähen, damit sie Häuschen und Auto abbezahlen können. Das Verhalten vage dem Neoliberalismus zuzuschreiben halte ich für nicht zielführend.

    Tja, und Alisier, sie sehen falsch: “Was sehen wir aber zunehmend? Eltern, die ihre Kinder gerne in Ganztagsbetreuung sähen, damit sie Häuschen und Auto abbezahlen können. Das Verhalten vage dem Neoliberalismus zuzuschreiben halte ich für nicht zielführend.”

    Doch, genau das ist Neoliberalismus. Warum alles teuer abbezahlen, was man nicht muss? Ich habe ein Pärchen in Düsseldorf kennengelernt, die beide genauso arbeiteten. Beide Vollzeit, beide ganz toll, beide Null Zeit fürs Kind. Das Kind hat sich urisch gefreut, als man ihr was vorgelesen hat, mal zugehört hat, weil das Kind das nicht kannte. Da weiß man, wie die näcste Generation der Asozialen herangezogen wird…….

  19. #21 DH
    20. September 2018

    “Wenn man gesellschaftliche Probleme psychologisiert und individualisiert, scheint auch nur auf der psychologisch-individuellen Ebene Handlungsbedarf zu bestehen.”
    Genau. Blume unterstelle ich das nicht, aber es gibt auch Kreise, die das Spielchen gezielt zur Erhaltung ihrer Pfründe betreiben.
    Tatsächlich besteht gar kein Gegensatz zwischen den psychologischen Aspekten und denen der Lebensbedingungen. Es ist vielmehr der Normalzustand jeder Krise und jedes nachhaltigen Mißstands, daß beides miteinander auftritt, materielle und psychische Not.
    Dabei ist es einfach nur logisch, daß diejenigen, die besonders leiden, auch zuerst Gegenwehr leisten,
    zumindest sofern sie noch die Ressourcen dazu haben, Viele gehen auch unter.
    Wer noch irgendwie durchkommt, wird eher zum Ruhighalten neigen, Widerstand kann schließlich ganz erhebliche Nachteile mit sich bringen.

  20. #22 Sernschnuppe
    22. September 2018

    Neoliberalismus spielt sicherlich einen Teil, besonders wenn manche Firmen viele “Konkurrenten” unterhalten, allerdings seh ich eher die fehlende Repräsentanz als Möglichkeit wahrscheinlicher.

    Wir haben zwei Stimmen, einen direkten Kandidaten des Wahlkreises und eine Partei.

    In Zeiten des Internets und der Nähe, die es bringt, wäre eine Neuordnung angebracht.
    Dass die direkt Gewählten den Wahlbezirk repräsentieren ist eine Farce.
    Warum kann ich niemanden wählen, der meinem Wahlbezirk nicht zugeordnet wurde, aber meiner Forderung an den Staat entspricht ?!

  21. #23 Fat Boo
    23. September 2018

    Ein interessanter Artikel mit so manchem Denkanstoß. Ich werde an den Autor denken wenn ich meine Kreuzchen bei der AfD mache.

    • #24 Joseph Kuhn
      24. September 2018

      @ FatBoo:

      “Ich werde an den Autor denken wenn ich meine Kreuzchen bei der AfD mache”

      Sie schreiben, der Artikel hätte so manchen Denkanstoß zu bieten. Lassen Sie sich also auch zum Denken anstoßen, bevor Sie wählen, dann haben Sie vielleicht mehr Grund, an mich zu denken, wenn Sie wählen.

      Dazu eine passende, aber ganz offenkundig nicht zu Ende gedachte Überlegung von Herrn Blume aus dem oben als Aufhänger genommenen Blog: “Um die Neoliberalismus-These trotzdem aufrecht zu erhalten, müsste man also den Armen und Arbeitern vorwerfen, die eigenen Interessen nicht zu kennen und als Opfer neue Täter zu wählen.”

      Ob man ihnen das “vorwerfen” sollte, sei einmal dahingestellt, aber es für möglich halten, sollte man schon für möglich halten, so wie man es auch immer für möglich halten sollte, dass man sich selbst irren könnte. Ich weiß nicht, ob Herr Blume tatsächlich meint, dass Arme und Arbeiter ihre Interessen kennen und trotzdem AfD wählen (wahrscheinlich hat er den Widersinn seiner Aussage vor lauter Neoliberalismusapolegetik gar nicht gesehen), aber Sie machen sicher keinen Fehler, wenn Sie es für möglich halten, dass die AfD vielleicht doch nicht wirklich Ihre Interessen vertritt. Falls Sie nach reiflicher Überlegung trotzdem dieser Meinung sind: wählen Sie so, es ist Ihr demokratisches Recht.