Vor einem Jahr hatte ich hier den Arzneiverordnungsreport 2017 vorgestellt und dabei einen Blick auf das Verordnungsgeschehen bei den Antidepressiva, der wichtigsten Gruppe unter den Psychopharmaka, geworfen. Gerade ist die neue Ausgabe erschienen, die 34 inzwischen.
Der Anstieg der Antidepressiva-Verordnungen setzt sich demnach weiter fort. In den letzten 10 Jahren gab es einen Anstieg um ca. 50 %. 2017 wurden im GKV-Bereich 1,5 Mrd. DDD Antidepressiva verordnet. DDD sind „definierte Tagesdosen“, eine Rechengröße, um den Arzneimittelverbrauch zu dokumentieren. Bezieht man die DDDs auf die Zahl der GKV-Versicherten, so waren das gut 21 DDDs pro Versichertem. Rein rechnerisch wurde jeder GKV-Versicherte 21 Tage mit Antidepressiva behandelt. Das stimmt nicht so ganz, weil die tatsächlich verordneten Tagesdosen nicht mit den DDDs übereinstimmen, eventuell mitlesende Apotheker (und –innen) können das besser erklären als ich.
Hier auf Gesundheits-Check wurde wiederholt darüber berichtet, dass die psychischen Störungen viel häufiger als früher im Versorgungssystem ankommen. Diese Entwicklung spiegelt sich natürlich auch in der Zunahme der Antidepressiva-Verordnungen wider. Daher könnte man das zunächst als positiven Indikator für eine bessere Versorgung sehen, schließlich sollen Depressionen nicht unbehandelt bleiben. Allerdings, und auch darauf weist der Arzneiverordnungs-Report erneut hin, mehren sich die Zweifel am therapeutischen Nutzen von Antidepressiva, zumindest was den „flächendeckenden“ Einsatz angeht. Ihre Wirksamkeit scheint bestenfalls moderat und ihre Verordnung sollte, auch wegen der Möglichkeit eines durch die Mittel unter bestimmten Bedingungen steigenden Suizidrisikos, gezielt und gut kontrolliert erfolgen.
Der Bedarf an einer guten Versorgung depressiv Erkrankter ist jedenfalls enorm: Depressionen gehören zu den modernen Volkskrankheiten. Man geht davon aus, dass etwa 10 % der Erwachsenen in Deutschland im Laufe eines Jahres depressive Symptomatiken haben. Das ist zumindest das Ergebnis einer großen repräsentativen Erhebung des Robert Koch-Instituts, der GEDA-Studie 2014/2015. Basis war dort ein Kurzfragebogen (Patient Health Questionnaire, PHQ-8). Erhebungen auf anderer Grundlage, etwa ärztlichen Diagnosen oder vertieften psychiatrischen Interviews, liegen nicht weit davon entfernt. Jede Erhebungsmethode hat Vor- und Nachteile, die man bei der Interpretation beachten muss. So nehmen z.B. an Surveys akut schwer Erkrankte eher nicht teil, während die ärztlichen Diagnosen auch davon abhängen, wie das Versorgungsangebot ist. Aber diese Feinheiten seien einmal dahingestellt, da die Studien halbwegs in die gleiche Größenordnung zeigen. Wir sprechen also über Pi mal Daumen 7 Millionen Menschen im Alter ab 18 Jahren in Deutschland. Regional betrachtet, scheinen die Frauen in Thüringen am seltensten depressiv zu sein, in Berlin und Brandenburg am häufigsten, bei den Männern haben die Bayern und Sachsen-Anhaltiner am wenigsten Probleme, die in Hamburg am meisten. Aber ob diese Regionalverteilung wirklich belastbar ist, weiß ich nicht, die Konfidenzintervalle sind z.T. gigantisch.
Inwiefern heute mehr Menschen depressiv sind als früher, weiß man nicht. Bei den psychischen Störungen insgesamt neigen die Fachleute dazu, dass sie eher gleich häufig bleiben und nur mehr davon im Versorgungssystem ankommen als früher, bei den Depressionen ist man sich nicht ganz so sicher. Aber falls sie zunehmen, dann sicher nicht so dramatisch wie die Antidepressiva-Verordnungen. Möglicherweise hält schlicht das psychotherapeutische Angebot nicht Schritt mit der steigenden Nachfrage nach Behandlung.
Der Arzneiverordnungs-Report kann auch ansonsten mit sehr interessanten Daten aufwarten. Beispielsweise kann man dort nachlesen, dass für „umstrittene Arzneimittel“, deren therapeutische Wirksamkeit nicht in ausreichendem Maße durch kontrollierte klinische Studien nachgewiesen wurde, ca. 500 Mio. Euro ausgegeben wurden. Vor 30 Jahren, 1986, waren es noch 1,7 Mrd. Euro. Nicht alle diese Mittel sind einfach zu streichen, weil es manchmal keine nachweislich wirksamen Mittel gibt. Am meisten Geld ausgegeben wurde 2017 für Onkologika (6,4 Mrd. Euro), Immunsuppressiva (4,7 Mrd. Euro) und Antidiabetika (2,4 Mrd.). Die Psychopharmaka liegen mit 1,7 Mrd. Euro auf Platz 6 der umsatzstärksten Arzneimittel. Impfstoffe sind, auch das sei noch angemerkt, mit ca. 1,2 Mrd. Euro dabei. Insgesamt wurden 2017 im GKV-Bereich 39,9 Mrd. Euro für Arzneimittel ausgegeben.
Der Arzneiverordnungs-Report ist wie sein Vorgänger ein umfassendes Nachschlagewerk. Er ist 906 Seiten stark, d.h. auf eine Seite kommen 44.000 Euro Arzneimittelausgaben. In Relation dazu ist er mit 59,99 Euro, also ca. 7 Cent pro Seite, schon wieder preiswert. Lohnenswert ist die Lektüre auf jeden Fall.
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