Wir leben in einer Zeit, in der an allen Ecken und Enden Gesundheitsdaten generiert und analysiert werden. Seit einigen Jahren gilt das auch für kleinräumige Daten, z.B. Daten auf der Ebene von Landkreisen und kreisfreien Städten oder auf Gemeindeebene. Beispielsweise stellt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung Regionaldaten in seinem „Versorgungsatlas“ zur Verfügung, die Bertelsmann Stiftung im „Faktencheck Gesundheit“ und auch die Bundesländer halten regional gegliederte Gesundheitsdaten vor, einige auch in Form interaktiver Gesundheitsatlanten.

Die Krankenkassen haben sich lange nicht um Regionalvergleiche gekümmert, aber inzwischen bereichern auch sie erfreulicherweise die Welt der kleinräumigen Daten. Gerade ist der BKK-Gesundheitsreport 2017 herausgekommen.

BKK-Report 2017

Er enthält neben dem Schwerpunkthema Digitale Arbeit eine Vielzahl von Routinedaten zur ambulanten und stationären Versorgung der BKK-Versicherten, sehr gut aufbereitet und allgemeinverständlich geschrieben. Der Bericht kostet als gebundenes Buch 39,95 Euro, ist aber auch kostenlos auf der Seite des BKK-Bundesverbandes herunterzuladen. Sehr hilfreich ist, dass die Daten der Grafiken als Exceltabellen verfügbar sind, so dass man bequem damit weiterarbeiten kann. Ich will aus dem Band nur einen Aspekt herausgreifen, weil er an das Thema Antidepressiva-Verordnungen anschließt, das hier auf Gesundheits-Check vor kurzem Thema war.

Im BKK Gesundheitsreport gibt es eine kleinräumige Darstellung zu den Verordnungen von Psychoanaleptika, das sind vor allem Antidepressiva. Rot gefärbt sind die Regionen, in denen mehr Psychoanaleptika verordnet werden als im Durchschnitt. Man erkennt eine Häufung von Verordnungen in Ostbayern.

BKK-Report 2017_Karte

Stellt man jetzt noch die die Häufigkeit diagnostizierter Depressionen einerseits und die Häufigkeit der ambulant tätigen Psychotherapeuten andererseits dazu, fällt auf, dass es in Ostbayern überdurchschnittlich viele diagnostizierte Depressionen gibt (siehe Grafik unten, je dunkleres Grün, desto mehr), aber bei der Psychotherapeutenzahl ist es eher Durchschnitt.

Depressionen_Bayern_regional

Bei der Interpretation muss man natürlich vorsichtig sein. Bei Regionalvergleichen lauert der „ökologische Fehlschluss“ an jeder Ecke, außerdem müsste man z.B. neben den ambulant tätigen Psychotherapeuten auch die stationären Versorgungsangebote betrachten, und vielleicht spielen bei den regionalen Psychopharmaka-Verordnungen doch auch Besonderheiten des BKK-Klientels eine Rolle, aber zumindest liegt die Frage nahe:

Werden in Ostbayern mehr Psychoanaleptika verordnet, weil es gemessen am Versorgungsbedarf nicht genügend psychotherapeutische Angebote gibt? Oder nehmen die Menschen in Ostbayern solche Angebote aus irgendwelchen Gründen weniger in Anspruch?

Ich will über mögliche Antworten nicht weiter spekulieren, sondern nur darauf aufmerksam machen, wie solche Regionalvergleiche zu interessanten Forschungsfragen führen können. Gerade was regionale Unterschiede der Gesundheit und der Gesundheitsversorgung angeht, sind in der Versorgungsforschung noch weite Felder unbeackert.

Bundesgesundheitsblatt_12_2017

Abschließend noch ein kleiner Werbeblock: Ebenfalls druckfrisch ist die Dezemberausgabe des Bundesgesundheitsblatts, die ich zusammen mit Anke Christine Saß, einer Kollegin aus dem Robert Koch-Institut, koordinieren durfte. Das Heft beschäftigt sich mit eben jenen kleinräumigen Unterschieden der Gesundheit und Gesundheitsversorgung und stellt exemplarisch empirische Befunde sowie methodische Überlegungen vor. Regional hat also Konjunktur, nicht nur was Produkte aus der Region angeht.

Kommentare (10)

  1. #1 Lisa
    3. Dezember 2017

    Gutes Benchmarking-Instrument

  2. #2 Dobson
    4. Dezember 2017

    “Besonderheiten des BKK-Klientels”
    Das ist die große Frage, die sich für mich bei den krankenkasseneigenen Auswertungen stets stellt:
    Der Anteil der BKK-Versicherten an den GKV-Versicherten wird mit 15 % angegeben. Daraus Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verhältnisse in einer Region zu ziehen, halte ich für problematisch. Depressionsraten und Psychoanaleptika-Verordnungen bei den BKK-Versicherten kann man nicht einfach mit den Psychotherapeutenzahlen in kausale Verbindung bringen. Die Vorsicht bei der Interpretation ist also berechtigt.

  3. #3 dedickeBom
    4. Dezember 2017

    Regionale Gesundheitsdaten,
    ich wäre an der Verbreitung von Zöliakie interessiert.
    Im bereich Karlsruhe kenne ich einen Fall wo in einer Grundschulklasse 4 zöliakikranke Kinder sind, die in einem Umkreis von 500 m wohnen, an dessen Rand Versuchsfelder liegen.

  4. #4 RainerO
    4. Dezember 2017

    @ RainerO
    Ist die Zöliakie eindeutig diagnostiziert? Wenn die Kinder nicht nahe verwandt sind (Zöliakie ist teilweise erblich bedingt), ist das schon eine ungewöhnliche Häufung, da nur ca. 1% der Bevölkerung betroffen ist.
    Eine Frage ist auch, wie Versuchsfelder daran beteiligt sein sollen? Deren Ernte kommt doch nicht in den Verkehr.

  5. #5 Joseph Kuhn
    5. Dezember 2017

    Update:

    Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hat gerade eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der ähnliche Fragen wie hier und in einigen der letzten Blogbeiträge gestellt werden:

    “Es ist (…) nicht nachvollziehbar, warum die Politik, aber auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land so wenig Anstoß nehmen an den Berichten über regionale Unterschiede in der Versorgung, über den Einfluss der Industrie und sonstiger Lobbyisten der Gesundheitswirtschaft, über Ärzte, die zu Unternehmern mutiert sind und vor lauter IGeL-Angeboten und medizinischen Präventionsmaßnahmen kaum noch Zeit für die Versorgung von Kranken haben. Wo ist die Empörung, wo ist das zivile Engagement? Wo aber ist die Agenda der Parteien?”

  6. #6 dedickeBom
    5. Dezember 2017

    RainerO,
    die Fälle sind eindeutig diagnostiziert.
    Die Felder werden besprüht und die Aerosole atmen die Kinder ja auch ein.
    Ich bin deshalb darauf aufmerksam geworden, weil ich auch Zöliaki habe, erst mit 65 ! bemerkt, und deswegen wachsam bin.

  7. #7 Beobachter
    5. Dezember 2017

    Joseph Kuhn, # 5:

    Nur von Ihrem Update-Zitat ausgehend:

    Da schiebt aber auch die EbM den Schwarzen Peter z. T. an die falsche Stelle:
    Die einigermaßen aufgeklärten Patienten und Angehörigen haben alle Hände voll zu tun, um sich selbst und Nahestehende einigermaßen unbeschadet durch den Dschungel/das “Haifischbecken” des Gesundheitswesens bzw. der Gesundheitswirtschaft zu bringen, wenn wirklich schwerwiegende, behandlungsbedürftige Erkrankungen und/oder Pflegebedürftigkeit vorliegen.
    Ohne dieses praktische “zivile Engagement” würde es (für die Patienten) noch viel schlimmer aussehen.
    Es müssen z. B. schwer Herzkranke (oder ihre Angehörige) beim Hausarzt um Überweisung zum Kardiologen kämpfen/betteln, wenn sie “nur” bei einer GKV versichert sind.
    Und die erste Frage bei einer telefonischen Terminabsprache in einer Uni-Klinik-Ambulanz lautet: Sind Sie privat versichert?

    “Empörung” (zu äußern) kommt selbst hier im Blog schlecht an, wie zu sehen war/ist.
    Wie wäre es denn damit, dass die Ärzteschaft selbst zuerst mal in den eigenen Reihen “ausmistet” bzw. dort die “Spreu vom Weizen trennt”, (wie gesagt: es sind nicht immer nur die Heilpraktiker an allem schuld) bevor sie Engagement der Patienten selbst und “der Politik” verlangt?!

    Und regionale Unterschiede sind nur das unterschiedlich stark ausgeprägte Symptom ein- und derselben Sache … – bzw. Missstände.

  8. #8 Beobachter
    5. Dezember 2017

    Nachtrag zu # 7:

    Und selbst “Leitlinien” und “Klassifikationen” sind keine “Gebetbücher”, denn die Autoren können auch “Interessenkonflikten” unterliegen …

  9. #9 gedankenknick
    11. Dezember 2017

    Vielleicht sind ja auch regionale Unterschiede bei der Einflussnahme von Krankenkassen auf die Diagnosestellung der Ärzte zu verzeichen? Sollte mal untersucht werden…

    https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/politik/kassen-manipulation-unertraeglich-stiftung-patientenschutz/

  10. #10 detemporäreBom
    11. Dezember 2017

    Beobachter,
    Menschlichkeit kannst du nicht per Gesetz verordnen. Es ist schon 45 Jahre her, da habe ich als Rettungssanitäter einen Mann mit einem offenen Durchbruch am Arm ins Krankenhaus gefahren. Der Mann jammerte vor Schmerzen.
    Die erste Frage von der Dame an der Notaufnahme (regungslos): Bei welcher Krankenkasse sind sie versichert?