Wer blickt noch durch?

In den Gesundheitswissenschaften stellt man seit geraumer Zeit fest, dass sich viele Menschen mit Gesundheitsinformationen schwer tun. Kein Wunder: Das Gesundheitswesen ist ein höchst kompliziertes System, dessen Funktionsweise auch Fachleute im Einzelnen nicht durchdringen, und Informationen darüber, was der Gesundheit schadet oder nicht und welche Behandlungen nützen oder schaden, muss man oft aus wie eine Nadel aus einem Heuhaufen von Unsinn heraussuchen. Ist Margarine ungesund? Soll man Kaffee meiden? Wie gefährlich ist Glyphosat? Was ist mit einem Gläschen Wein am Abend? Soll man zur Mammographie? Oder, als Mann, zum PSA-Screening? Soll man sich gegen Grippe impfen lassen, obwohl die Impfung vergleichsweise wenig wirksam ist? Sind die Masern eine schlimme Krankheit? Kann Homöopathie auch schaden? Was bedeutet ein HbA1c-Wert von 7 %? Wie lange sollte man sich täglich bewegen, und eher mäßig oder so, dass man schwitzt? An apple a day keeps the doctor away – stimmt das wirklich? Was bedeutet “selten” bei den Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel? Was macht der Gemeinsame Bundesausschuss, was das IQWIG, was das IQTIG, was das INEK und was der Bewertungsausschuss? Hat der Bewertungsausschuss auch ein Institut?

Viele Leute werden bei der einen oder anderen Frage googeln und dann mit einer Flut von unterschiedlichen, sich manchmal auch widersprechenden Informationen überschüttet. Was stimmt? Und was tun, wenn sich da und dort selbst die Wissenschaft nicht ganz sicher ist?

Gesundheitskompetenz

Die Fähigkeit, sich in dieser Situation zurechtzufinden, wird seit einigen Jahren mit dem Begriff „Gesundheitskompetenz“ bezeichnet. Oder „health literacy“, wer es lieber neudeutsch mag.

„Gesundheitskompetenz“ bezeichnet, so das Robert Koch-Institut, einer gängigen Definition folgend, die „Fähigkeiten und Fertigkeiten, Gesundheitsinformationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und für gesundheitsbezogene Entscheidungen anzuwenden“.

Gesundheitskompetenz hat also etwas mit Fähigkeiten, Wissen und Handeln zu tun. Und klar ist auch: Gesundheitskompetenz ist ein relationales Konzept: Je unübersichtlicher die Lage, desto höher die Anforderung an die Kompetenz. Wenn auf einem Lebensmittel die Inhaltsstoffe gut gekennzeichnet sind, sind in dieser Hinsicht die Anforderungen an die Gesundheitskompetenz geringer. Wenn man in ein fremdes Land kommt, dessen Gesundheitssystem man nicht kennt und das wenig Orientierungshilfen für Zuwanderer bereitstellt, sind die Anforderungen an die Gesundheitskompetenz der Zuwanderer groß.

Wie es mit der Gesundheitskompetenz an sich beschaffen ist, wird mit Fragebögen international erhoben. Demnach liegt Deutschland im Ländervergleich im Mittelfeld, knapp die Hälfte der Deutschen verfügt einer Referenzstudie zufolge über eine ausreichende oder gute Gesundheitskompetenz.

Gesundheitskompetenz

Wie bei vielen gesundheitsbezogenen Merkmalen ist auch hier ein Sozialgradient zu beobachten: Die oberen Sozialstatusgruppen haben bessere Werte bei der Gesundheitskompetenz als die unteren Sozialstatusgruppen. 62 % der Menschen mit geringem Bildungsniveau haben eine nicht ausreichende Gesundheitskompetenz, und 78 % der Menschen mit niedrigem Sozialstatus. Ergo: Man muss die Gesundheitskompetenz vor allem der unteren Sozialstatusgruppen fördern. Muss man? Oder bilden die Fragebögen Defizite der Gesundheitskompetenz der oberen Sozialstatusgruppen nur weniger gut ab?

Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz
Darüber, was die Fragebögen wirklich erfassen, welche Verhaltensnormen sie implizit propagieren, inwiefern die Daten länderübergreifend vergleichbar sind und welche praktischen Folgen aus den Ergebnissen zu ziehen sind, gibt es heftige Kontroversen. Dessen ungeachtet, hat die Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode einen „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ aufgelegt. Das ist erst einmal positiv. Wenn es Menschen leichter gemacht werden soll, sich im Gesundheitsdschungel zurechtzufinden, ist das zu begrüßen. Ob es klappt, wird man sehen. Nationale Aktionspläne sind ein Instrument, um Bewegung in eine Sache zu bringen. Manchmal wird etwas daraus, manchmal nicht.

Die Gesundheitskompetenz ist ein schillerndes Ding. Manche theoretische Überlegungen dazu sind durchaus anspruchsvoll. Da ist z.B. auch die Rede von kritischen Kompetenzen. Eine Bürgerinitiative gegen Fluglärm aufzubauen, würde beispielsweise unter ein solches Verständnis von Gesundheitskompetenz fallen. Die Operationalisierung des Konzepts zur Messung der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung geht schon erkennbar mit gravierenden Einschränkungen einher, und die politische Instrumentalisierung des Konzepts hat klare Tendenzen dahingehend, dass die Leute gefälligst lernen sollen, das zu tun, was man in Bezug auf die Gesundheit von ihnen erwartet. Nicht rauchen, wenig Alkohol trinken, ausreichend bewegen und gesund ernähren.

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Kommentare (9)

  1. #1 Novidolski
    20. Oktober 2018

    Anstelle einer feinsinnigen Analyse ein paar Gedankensplitter.
    “Folge der Spur des Geldes”, sagte die Kriminalkommissarin. So ist das auch bei der Gesundheitskompetenz.
    Einem der reichsten Männer dieser Erde, Paul Allen, hat das nichts genützt Der Tod erwartet uns. Sollen wir uns darüber Sorgen machen ?
    Der Weg dorthin ist steinig, mit viel Geld kann man sich dabei tragen lassen.
    Aber trösten wir uns mit dem Gedanken “bis jetzt hat es jeder noch geschafft” .
    Wer akute Beschwerden hat und eine Wartezeit von 1/2 Jahr, der sieht das nicht mehr so locker.
    So wie man sich überversichern kann, so kann man sich auch in eine Krankheit hineinsteigern.
    Wer privat krankenversichert ist und in Miete wohnt, den trifft es hart. Die Rente/Pension steigt nicht so stark wie die Miete.
    Sind Krankheitskosten per se inflationär?
    Damit soll es gut sein.

  2. #2 Hans
    20. Oktober 2018

    Der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Ralf Brauksiepe, nimmt in seinem Grußwort an die “Hahnemannia” auch Bezug auf das Schlagwort Gesundheitskompetenz, interpretiert diese dann aber im Sinne von “Wer heilt hat recht”.
    Die Bundesregierung sollte vielleicht mit der Stärkung der Gesundheitskompetenz in ihren eigenen Reihen beginnen…
    https://www.hahnemannia.de/index.php/veranstaltungen-des-dachverbands/150-jaehriges-jubliaeum-grussworte/

  3. #3 Hans
    20. Oktober 2018

    Aaah, Sie können meinen Kommentar gerne löschen… steht ja schon alles auf der 2. Seite des Artikels. Ich hatte erst nicht gesehen, dass es noch weitergeht (; .

  4. #4 Joseph Kuhn
    20. Oktober 2018

    @ Hans:

    “Die Bundesregierung sollte vielleicht mit der Stärkung der Gesundheitskompetenz in ihren eigenen Reihen beginnen”

    Unbedingt. Die Deutsche Apotheker Zeitung schrieb anlässlich der Ernennung Brauksiepes: “Die Gesundheitspolitik ist ein neues Feld für Brauksiepe.” Vielleicht wird’s ja noch.

  5. #5 RainerO
    20. Oktober 2018

    Man könnte aber an der Ernennung eines völligen Neulings auf diesem Gebiet auch ablesen, wie (un)wichtig der Regierung dieses Thema zu sein scheint. Ich weiß ja nicht, welchen Apparat ein Patientenbeauftragter (so etwas gibt es in Österreich nicht) hinter sich hat, aber man kann doch nicht einen Anfänger ganz oben hinsetzen und hoffen, dass seine Beamten die Bude schon schaukeln werden. Ob Learning on the Job in diesen Ebenen ein taugliches Konzept ist?

  6. #6 borstel
    21. Oktober 2018

    Mit der Gwsundheitskompetenz scheint es aber noch anderswo im Argen zu liegen: https://www.aerzteblatt.de/archiv/201976/Unabhaengige-Patientenberatung-Beratungsqualitaet-Transparenz-und-Kontrolle-im-Argen – und die Bundesregierung stellt sich dumm dazu!

  7. #7 Novidolski
    21. Oktober 2018

    Bei dieser Diskussion ist nicht ganz klar, was mit Kompetenz gemeint ist.
    Sachverständnis inklusive Verantwortungsbewußstsein auf der Ebene Arzt und Patient ?
    Oder doch lieber das große Feld der Gesundheitspolitik mit ihren unterschiedlichsten Interessenvertretern?
    Oder soll das hier eine Abrechnung werden mit der Bundesregierung und den zuständigen Ministerien bzw. Ämtern?

  8. #8 Nervensäge
    24. Oktober 2018

    …Wenn bullshit zum neuen Lieblingswort geworden ist 😀

  9. #9 Joseph Kuhn
    1. November 2018

    Update:

    “Vielleicht wird’s ja noch.”

    Vor gerade mal zwei Wochen schrieb ich das in Kommentar #4. Es wird nichts mehr, Brauksiepe wechselt in die Immobilienwirtschaft.