Schwierige Verhältnisse
Das Verhältnis zwischen Politik, Industrie und Wissenschaft ist komplex. Darüber werden dicke Bücher geschrieben und die Beziehungen, die dabei diskutiert werden, verändern sich auch noch mit der Zeit, d.h. was gestern analysiert wurde, muss morgen schon nicht mehr ganz zutreffend sein. Mit anderen Worten: Es geht hier um ein Verhältnis, das der ständigen Selbstvergewisserung der Akteure bedarf und wohl nicht ein- für allemal „geklärt“ werden kann. Dieses weite Feld soll einleitend nur kurz mit ein paar Schlaglichtern beleuchtet werden, damit die folgende Diskussion besser einzuordnen ist:
Unternehmen bzw. „die Industrie“ produzieren Wissen, von dem wir alle profitieren. Neue Produkte, z.B. neue Geräte oder neue Arzneimittel, werden überwiegend von Unternehmen entwickelt und – in unserem Wirtschaftssystem natürlich mit Gewinnabsicht – der Gesellschaft zur Verfügung gestellt.
Das schließt ein, dass bei Industrieforschung neben dem Generieren von Wissen für die Gesellschaft immer auch Gewinninteressen eine Rolle spielen und beides kann in Konflikt zueinander stehen. Dass die Waffenindustrie zwar brillantes technisches Wissen hervorbringt (von den Materialien, die sie der Bundeswehr verkauft, einmal abgesehen), aber nicht neutral über die humanitären Folgen ihres Tuns forscht, dürfte so unstrittig sein wie die altbekannte Tatsache, dass die Tabakindustrie prototypisch so gut wie alle bekannten Wege der Manipulation der Wissenschaft und der Öffentlichkeit ausprobiert hat. Gut, Tabak ist vielleicht eh kein gesellschaftlich notwendiges Produkt, aber auch die Pharmaindustrie, die Asbestindustrie, die Autoindustrie, die Lebensmittelindustrie und andere sind davon geprägt, dass die Qualität ihres produktionstechnischen Know-Hows sich nicht unbedingt in der Qualität und Neutralität ihrer Folgenforschung widerspiegelt, um es ganz vorsichtig zu formulieren.
Einfache Verhältnisse
Dass die Industrie in diesem Spannungsfeld lieber Studien sieht, die ihre Produkte gut dastehen lassen, sollte also nicht verwundern. Solche Studien liefert sie oft selbst. Meist zusammen mit Begleitbeifall geneigter und oft genug auch von der Industrie bezahlter „unabhängiger“ Experten. Das ist bestens erforscht und nicht weiter diskussionsbedürftig. Etwas komplizierter sieht es aus, wenn die Industrie, um problematische Produkte in ein möglichst gutes Licht zu rücken, konkurrierende Risiken erforschen lässt. Auch hier war die Tabakindustrie Vorreiter, etwa mit der Förderung von – an sich exzellenter – Forschung zu arbeitsbedingten Herzkreislaufrisiken oder genetischen Krebsrisiken. Zugleich wird damit scheinbar die Corporate Social Responsibility der Tabakindustrie unter Beweis gestellt: Wer so viel Gutes tut, den darf man doch nicht ausgrenzen oder ihm gar verweigern, Parteiveranstaltungen zu sponsern. Man kann es als Akt der Verzweiflung angesichts der unmöglichen Kontrolle solcher Manipulationstechniken ansehen, dass viele große medizinische Fachzeitschriften inzwischen gar keine Studien mehr publizieren, die unter Beteiligung der Tabakindustrie entstanden sind.
Noch eine Windung mehr in der Spirale der raffinierten Einflussnahme ist der Versuch, die Kriterien sauberer wissenschaftlicher Arbeit selbst mitzubestimmen. Wiederum hat auch hier die Tabakindustrie Pionierarbeit geleistet, etwa mit ihrer „Sound Science Coalition“. Der Diskurs darüber, was gute Wissenschaft ausmacht, wird aber seit Jahrzehnten auf hohem Niveau in der Wissenschaftstheorie geführt, Nachhilfe der Tabakindustrie ist da in keiner Weise nötig.
Wenn die Industrie erklärt, was gute Wissenschaft ist, ist vielmehr Vorsicht geboten. Auch die Industrie weiß natürlich, dass das andere besser können. Aber sie weiß auch, dass das nicht alle wissen. Vor einigen Jahren gab es einen Versuch, über eine „Brüsseler Erklärung“ der Allgemeinbevölkerung einzureden, dass die Wissenschaft mit ihrer Kritik an Tabak und Alkohol auf Abwege geraten sei. Hinter dieser Erklärung standen bekannte Tabak-Lobbyisten, ihre Brüsseler Erklärung war zu billig gemacht und hat weder in der Wissenschaft noch in der Politik eine Rolle gespielt.
Einfach nur peinliche Verhältnisse
Gegenüber der Tabakindustrie waltet inzwischen ohnehin eine verbreitete Vorsicht, auch wenn sie z.B. über die ihr nahestehenden „gemeinnützigen“ Stiftungen immer wieder Wege des Mitspielens findet. Im Kuratorium der Philip Morris-Stiftung sitzt seit Jahren mit Thomas Goppel sogar ein – inzwischen – ehemaliger bayerischer Wissenschaftsminister. Das schafft Glaubwürdigkeit und Spielräume. Beispielsweise wurde das von der Hautevolee der deutschen Wissenschaft organisierte „Wissenschaftsbarometer“, eine jährliche Befragung der Bevölkerung zum Vertrauen in die Wissenschaft, bis 2016 ausgerechnet von der Philip Morris-Stiftung gesponsert. Wissenschaftskommunikation ist ein Feld, in das die Industrie frühzeitig investiert hat. Wie in solchen Fällen üblich, sicher „ohne Einfluss“ zu nehmen. Genauso wie Monsanto „keinen Einfluss“ auf Helmut Greim genommen hat oder die Automobilindustrie nicht auf die Projekte, die die EUGT gefördert hat. Immerhin: Seit zwei Jahren ist das „Wissenschaftsbarometer“ jetzt rauchfrei, die Bosch-Stiftung hat das Sponsoring übernommen.
Ganz schwierige Verhältnisse
Deutlich raffinierter ging die Industrie im Falle einer anderen „Brüsseler Deklaration“ vor, die Anfang letzten Jahres veröffentlicht wurde:„The Brussels declaration on ethics & principles for science & society policy-making“. Das Papier wurde breit rezipiert und sogar in Nature kritiklos angekündigt. Es enthält viele Punkte, die man akzeptieren kann, aber das Papier hat auch eine dunkle Seite. Wie Richard Horton, Herausgeber des renommierten Lancet, damals schrieb, hatte er 2012 an einem Meeting über Harm Reduction in Brüssel teilgenommen. Eingeladen hatte die wissenschaftliche Chefberaterin des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Barroso. Dieses Treffen und vier weitere wurden von der Agentur SciCom organisiert. Die Teilnehmer, darunter viele über jeden Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Integrität erhabene Wissenschaftler, finden sich nun im Anhang dieser Brüsseler Deklaration wieder. Horton dazu: „the Declaration suggests that we supported it – a clear manipulation of the truth“. Auch andere Teilnehmer reiben sich verwundert die Augen, wie sie in diese Sache geraten sind.
Die Kritik rührt daher, dass an dem Treffen auch Industrievertreter teilgenommen haben und es ihnen – die Agentur SciCom lässt grüßen – offensichtlich gelungen ist, für sie wichtige Punkte in diesem Dokument zu verankern und durch die Konstruktion des Papiers den Anschein zu erwecken, dass alle Teilnehmer der Meetings dahinter stehen.
Unanständige Verhältnisse
In dem Papier kann man dann z.B. lesen, „that it is in all our interests that we benefit from ‘evidence-based policy-making’ rather than suffer ‘policy-biased evidence’.” Völlig richtig, aber ob ausgerechnet die Industrie glaubwürdig dafür eintreten kann?
Die Industrie beansprucht in dem Papier, dass ihre Stimme gehört wird – als ob das bisher nicht der Fall sei und sie nicht über ihre Lobbyisten die Abgeordneten ohnehin zur Genüge mit ihren Ansichten überfluten würde. Aber mehr noch, dieses Recht wird daran festgemacht, dass sich die Industrie als wichtigster Player in der Wissenschaft sieht: „As the largest investor in knowledge generation, technology and science, it has every right to have its voice heard.“ Wer zahlt, schafft an. Weiter: Interessenkonflikte zwischen Kommerz und Wahrheit seien dabei nicht das wichtigste Problem, da, und jetzt kommt ein echter Hammer, der Wissenschaft viel ernstere Interessenkonflikte zu schaffen machen würden: „commercial conflicts of interest are fairly easy to deal with if they are properly declared and the relationship between the science and the marketing made explicit. Ideological, personal or academic conflicts of interest, on the other hand, are much harder to detect or deal with.“ Ein Aufruf an die medizinischen Fachzeitschriften, wieder alles zu drucken, was die Tabakindustrie so fördert, es reicht ja, es offenzulegen?
Aber auch damit noch nicht genug: „Scientists need to recognise that they are advocates with vested interests too – in their case, in their own science.” Den Satz sollte man mehrmals lesen und etwas hin- und herwenden. Da wird das wissenschaftliche Denken an sich zu einem „berechtigten“ Interesse, „too“ – wie andere Interessen auch. Vielleicht sollten die Wissenschaftler künftig angeben, dass sie einen Interessenkonflikt haben, weil sie Wissen schaffen wollen und das den Interessen der Industrie zuwiderlaufen könnte? Die feinen Wissenschaftler sollen jedenfalls mal vom hohen Ross herunter: „They need to be less aloof, perhaps even less arrogant“. Schließlich hat die Politik immer abzuwägen, da ist die Wissenschaft eben nur eine Stimme. Im Prinzip richtig, aber in diesem Kontext klingt das komisch.
Jim McCambridge, Mike Daube und Martin McKee haben gerade in Tobacco Control die Geschichte der neuen Brüsseler Deklaration und die Einflussnahme insbesondere der Tabak- und Alkoholindustrie nachgezeichnet: “Brussels Declaration: a vehicle for the advancement of tobacco and alcohol industry interests at the science/policy interface?“ Sie sehen sich an die früheren Aktivitäten der Tabakindustrie zu „sound science“ und „guter epidemiologischer Praxis“ erinnert (die im deutschen Sprachraum publizierte „Gute Epidemiologische Praxis“ hat damit meines Wissens aber nichts zu tun, das nur nebenbei). Zu Recht monieren sie, dass das Papier zwar mehr Transparenz in der wissenschaftlichen Politikberatung anmahnt, aber selbst auf höchst intransparente Weise zustande kam, Wissenschaftler vereinnahmt, die die Thesen des Papiers höchst kritisch sehen und dass auch unklar ist, welche Rolle z.B. die Tabak- und Alkoholindustrie gespielt hat.
Angesichts dessen ist zu hoffen, dass nicht beim nächsten March for Science die Brüsseler Deklaration hochgehalten wird oder, was bedenklicher wäre, das Papier von Bewertungsbehörden, Abgeordneten und Ministern künftig als Legitimation für eine noch stärkere Rücksichtnahme auf Industrieinteressen in der Gesundheits- und Umweltpolitik benutzt wird. Vor dem von McCambridge et al. beschriebenen Hintergrund muss man die Brüsseler Deklaration wohl als vergiftetes Papier sehen.
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Zum Weiterlesen:
• Horton R (2017) Offline: Difficult truths about a post-truth world. Lancet 389; 1. April 2017: 1282.
• McCambridge J, Daube M, McKee M (2018) Brussels Declaration: a vehicle for the advancement of tobacco and alcohol industry interests at the science/policy interface? Tob Control Epub ahead of print, download 8.10.2018, doi: 10.1136/tobaccocontrol-2018-054264.
• Klemerer D (o.J.) Interessenkonflikte.
• Kuhn J (2011) Evidenz in Interessenkonflikten: Das Beispiel Passivrauchen. Forum Kritische Psychologie 55: 145-151.
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