Immer mehr Fälle im Versorgungssystem

Auf Gesundheits-Check ist schon mehrfach darüber berichtet worden, dass die psychischen Störungen in den letzten Jahren verstärkt im Versorgungssystem angekommen sind, im ambulanten wie im stationären Bereich. Da Fachleute davon ausgehen, dass die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht bzw. nicht wesentlich zugenommen hat, ist das im Prinzip eine erfreuliche Entwicklung, weil es bedeutet, dass psychische Störungen nicht mehr so oft wie früher unbehandelt bleiben. Das manchmal in den Medien verbreitete Bild, heute würde jeder mit jedem Wehwehchen zum Therapeuten gehen, stimmt trotzdem nicht. Studien zeigen immer wieder, dass ein erheblicher Teil der Menschen mit gravierenden psychischen Störungen dennoch nicht oder nicht zeitnah in Behandlung kommt. Vor kurzem hat z.B. das Robert Koch-Institut anhand der Daten seines Gesundheitsmonitorings darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der Erwachsenen mit einer depressiven Symptomatik nicht in Behandlung sind.

Diese angesprochene Dynamik im Versorgungssystem spiegelt sich dabei einerseits in steigenden Fallzahlen wieder, seien es Behandlungsfälle, Krankschreibungen, Frühberentungen oder Psychopharmakoverordnungen, andererseits auch in einer Verbesserung des Versorgungsangebots.

Exemplarisch sei hier kurz die Entwicklung im ambulanten Bereich beschrieben, dort wird der ganz überwiegende Teil der psychischen Störungen versorgt. Bei den nichtärztlichen Psychotherapeuten, also den Psychologischen Psychotherapeuten (für erwachsene Patienten) und den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (für die Heranwachsenden) gab es beispielsweise in der vertragsärztlichen Versorgung in den letzten fünf Jahren einen Zuwachs von 19.991 Therapeuten im Jahr 2013 auf 25.297 im Jahr 2017, also gut 25 % mehr. Die Zahl der ärztlichen Psychotherapeuten stieg im gleichen Zeitraum von 5.631 auf 6.121, also um knapp 10 %, die der Nervenärzte und Psychiater von 5.758 auf 5.877, um 2 %. Viele psychische Probleme werden allerdings nicht fachärztlich versorgt, sondern von Kinderärzten und Hausärzten oder von Einrichtungen der komplementären Versorgung aufgefangen, z.B. Erziehungsberatungsstellen, Suchtberatungsstellen usw.

Trotzdem gibt es vor allem bei der Psychotherapie lange Wartezeiten. Der letzten Wartezeiten-Studie der Bundespsychotherapeutenkammer zufolge lag die durchschnittliche Wartezeit auf eine Richtlinienpsychotherapie (die von den Kassen finanziert wird) bei fast 20 Wochen. Auf eine Sprechstunde, ein Angebot zur schnelleren Abklärung des Therapiebedarfs, musste man im Schnitt fast 6 Wochen warten und auf eine (kurze) Akuttherapie im Krisenfall immerhin auch noch 3 Wochen.

Was tun?

Vermutlich wäre eine reine Mengenausweitung der fachärztlich-psychotherapeutischen Kapazitäten keine zufriedenstellende Antwort auf diese Situation. Es geht auch um eine bessere Steuerung des Versorgungsbedarfs. So wie nicht jede depressive Episode in der Klinik behandelt werden muss, muss auch nicht jede Belastungsreaktion psychotherapeutisch versorgt werden. Die Frage ist, wie man das organisieren kann, ohne ungewollt das Gegenteil zu erreichen, z.B. indem man die Zeitkontingente der Therapeuten über Gebühr dafür aufwendet, Behandlungsbedarfe abzuklären und Beratungsleistungen zu alternativen Angeboten zu erbringen. Eine Ausweitung der Sprechstundenleistungen beispielsweise führt noch nicht zu mehr Therapieplätzen.

Gesundheitsminister Spahn hat insofern durchaus Recht, wenn er darauf hinweist, dass man über eine bessere Versorgungssteuerung nachdenken muss, wie er es in der Bundestagssitzung am 26. September dieses Jahres getan hat (siehe Plenarprotokoll S. 5329). Versorgungssteuerung ist aber immer auch mit der Frage danach verbunden, wer steuert und in wessen Interesse – eine Frage, hinter der im Gesundheitswesen unvermeidlich auch die nach Geld, berufsständischen Rivalitäten und Einfluss steht. In diesem Versorgungssegment meint ohnehin schon jeder, die jeweils anderen suchten sich ihre Patienten nach Belieben aus – die psychiatrischen Kliniken werfen das den psychosomatischen Kliniken vor, die Psychiater den Psychotherapeuten und vice versa. Spahns Bemerkung in der gleichen Bundestagssitzung, ein Psychiater habe „im Schnitt 1000 Patienten im Quartal, in der Psychotherapie gibt es im Schnitt 50 Patienten“, war vor diesem Hintergrund nicht nur nicht hilfreich, sondern befeuert eben jene Hintergrundkonflikte in ganz unnötiger Weise, denn Psychiater machen in der Regel eine ganz andere Arbeit als Psychotherapeuten. Wenn sie psychotherapeutisch arbeiten, schaffen sie natürlich auch keine 1000 Patienten im Quartal. So viele Arbeitsstunden hat ein Quartal nicht, ganz abgesehen davon, dass niemand rund um die Uhr wie am Fließband Psychotherapie machen kann, ohne nach kurzer Zeit selbst eine Therapie zu brauchen.

Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG): Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Im nun zur Lesung im Bundestag anstehenden „Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)“ gibt es einen Passus, der das Thema Versorgungssteuerung anspricht: Der verabschiedete Kabinettsentwurf für § 92 Abs. 6a Sozialgesetzbuch V sieht vor:

„Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt in den Richtlinien Regelungen für eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung einschließlich der Anforderungen an die Qualifikation der für die Behandlungssteuerung verantwortlichen Vertragsärzte und psychologischen Psychotherapeuten.“

Von der terminologischen Ungeschicklichkeit der „psychologischen Psychotherapeuten“ einmal abgesehen, die viele berufsrechtlich als „Psychologische Psychotherapeuten“ lesen und sich fragen, ob die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mal wieder vergessen wurden, wird die Gretchenfrage die nach den konkreten Steuerungsmechanismen sein. Wer soll wem welche Fälle zuweisen? Wenn die Patienten erst zum Psychiater müssen, würde das angesichts der oben genannten kleinen Zahl an Psychiatern absehbar eine Flaschenhalsproblematik der besonderen Art produzieren. Außerdem stünde damit das direkte Zugangsrecht der Patienten zu den Psychotherapeuten infrage, diese wiederum wären eine Art Auftragnehmer der Psychiater. Das kann also fachlich und vom Verhältnis der Berufsgruppen zueinander nicht gut gehen. Alternativ könnte man überlegen, wie Kinder- und Hausärzte, bei denen viele Patienten zuerst ankommen, besser als bisher entscheiden, wen sie weiterschicken und wen nicht. Aber werden sie sich dann nicht genau die Patienten zum Verbleib aussuchen, die ihnen aus welchem Grund auch immer angenehmer sind? Oder sollte man von der späteren Versorgung unabhängige Stellen schaffen, die Versorgungsempfehlungen für die spezifischen Angebote aussprechen? Ob das praktikabel ist? Muss dann der Hausarzt, bevor er eine leichte Depression behandelt, erst an diese Stelle verweisen, obwohl die Sache klar ist? Oder ein Psychotherapeut, zu dem ein Patient mit einer Zwangsstörung kommt – Fall eigentlich klar – muss den Patienten erst in diese Abklärungsrunde schicken?

Um die konkrete Ausgestaltung dieser Regelung wird es absehbar Streit geben. Ob es aus der Versorgungsforschung genug evaluierte Modelle gibt, um zu entscheiden? Möge etwas dabei herauskommen, was den Zugang zur Psychotherapie nicht noch mehr erschwert und verkompliziert. Patienten mit psychischen Störungen haben schließlich per definitionem nicht das beste Nervenkostüm.

Kommentare (26)

  1. #1 foobar407
    2. November 2018

    Als Laie kommt es mir so vor, als würde man hier bei der Versorgungsfrage zu viel mit den Symptomen kämpfen und zu wenig mit den Ursachen.
    Denn nun mag es ja Fachleute geben, die keine Zunahme der psychischen Erkrankungen vermuten – fest steht das aber bei weitem nicht.

    Und wenn es jetzt mehr Leute mit Depressionen gibt, dann sollten Überlegungen, wie man die wieder in den Arbeitsmarkt integriert bekommt, sekundär sein. Stattdessen müsste man sich mal damit beschäftigen, warum so viele Leute depressiv werden.

  2. #2 RainerO
    2. November 2018

    @ foobar407

    Stattdessen müsste man sich mal damit beschäftigen, warum so viele Leute depressiv werden.

    Dazu eine Frage eines anderen Laien: Und wie soll man das herausfinden, wenn man die Betroffenen mangels Angebot nicht behandelt, bzw. nicht behandeln kann?

  3. #3 Andreas
    2. November 2018

    Es ist noch unklar, was mit der gestuften und gesteuerten Versogung gemeint ist, die in § 92 Abs. 6a Sozialgesetzbuch V kommen soll. Aber es ist eine Überlegung wert. Gestufte Versorgung (stepped care) wird auch für andere Versorgungsbereiche diskutiert. Interventionen sollten in einer abgestuften Weise angeboten werden, um unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Das deutsche Gesundheitssystem ist oft übermäßig auf die oberste Stufe der Versorgungspyramide ausgerichtet. Hier die Psychotherapie. Einfach verfügbare, niedrigschwellige und in der Breite einsetzbare Interventionen aus den anderen Ebenen werden weniger gut koordiniert und nur unregelmäßig umgesetzt.

    Das Thema wird in der Diskussion um psychische Störungen bei Flüchtlingen behandelt (Bajbouj et al. (2018). Psychosoziale Versorgung von Flüchtlingen in Deutschland Erkenntnisse aus der Not- und Entwicklungshilfe. DOI 10.1007/s00115-017-0326-y).
    Auch interessant in diesem Zusammenhang: Watzke et al. (2018). Gestuftes Vorgehen (Stepped-Care) bei der Behandlung von Patienten mit Depressionen – Bericht über das Gesundheitsnetz Depression in psychenet – Hamburger Netz psychische Gesundheit.
    Findet sich auf der Webseite: http://www.dgvt.de.

    Schließlich:

  4. #4 foobar407
    2. November 2018

    @RainerO

    Und wie soll man das herausfinden, wenn man die Betroffenen mangels Angebot nicht behandelt, bzw. nicht behandeln kann?

    Aber das Gegenteil ist doch der Fall. Siehe Einleitungssatz des Artikels:

    Auf Gesundheits-Check ist schon mehrfach darüber berichtet worden, dass die psychischen Störungen in den letzten Jahren verstärkt im Versorgungssystem angekommen sind, im ambulanten wie im stationären Bereich.

    Ich stelle eher den zweiten Satz in Frage:
    Da Fachleute davon ausgehen, dass die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht bzw. nicht wesentlich zugenommen hat, …

    Die Datenlage dazu ist nicht so eindeutig. Und wenn man aber davon ausgeht, dass die Menschen doch kränker als früher geworden sind, dann muss man sich fragen, warum ist das so? Wenn man den ganzen Effekt aber nihiliert, sucht natürlich auch keiner mehr nach der Ursache.

  5. #5 Basilios
    Acca 13
    2. November 2018

    @ foobar407
    Ich stimme zu, daß man schon genau klären sollte, wie die Fachleute zu der Ansicht kommen. Wenn man das einfach so annimmt, dann besteht in der Tat die Gefahr, daß man hier einer Entwicklung nicht entgegensteuert, obwohl man das tun sollte.

    Aber das gilt auch in der Gegenrichtung. Wenn die Datenlage dazu tatsächlich noch nicht so eindeutig ist, dann halte ich es für verfrüht von einem Effekt zu sprechen und schon mal prophylaktisch zu bemängeln, daß keiner nach den Ursachen suchen würde.
    Als erstes gilt es wohl hier eine solide Datenlage zu bekommen. Ich denke, erst dann kann man sich für den weiteren Weg entscheiden.

  6. #7 Basilios
    Acca 13
    3. November 2018

    Danke Joseph.

    @ foobar407

    Ich stelle eher den zweiten Satz in Frage:
    “Da Fachleute davon ausgehen, dass die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht bzw. nicht wesentlich zugenommen hat, …”

    Die Datenlage dazu ist nicht so eindeutig.

    Von Joseph haben wir jetzt einen Beleg für seinen zweiten Satz bekommen. Wie kommst Du zu der Ansicht, daß die Datenlage nicht so eindeutig sei?

  7. #8 zimtspinne
    4. November 2018

    Eine Ausfallerscheinung im Versorgungssystem scheint mir auch zu sein, die Psychotherapiestundenanzahl pro Patient zu begrenzen, Unterbrechungen damit zu erzwingen, wo die vielleicht gar nicht sinnvoll oder sogar kontraproduktiv sind.
    Habe mich damit noch nicht intensiv befasst, die genauen Abläufe sind mir jetzt nicht bekannt, war nur eine Beobachtung im Bekanntenkreis und wird immer wieder angeprangert, nicht mal von Intensivtherapierten (damit meine ich zB Traumatherapie), sondern eben auch bei so langwierigen Geschichten wie Depressionen.

  8. #9 foobar407
    4. November 2018

    @Basilios

    Hast du das verlinkte Dokument gelesen und wirklich nichts gefunden, was meine Bedenken erklären würde?

    Wenn ich das mal ganz polemisch zusammenfassen darf, insbesondere den Abschnitt “Vergleich mit früheren Untersuchungen”, worum es hier ja geht, dann steht da:
    Wir haben dieses Mal was anderes gemessen als letztes Mal, aber es ist beide Male in etwa das gleiche herausgekommen. Warum das so ist, müsste man sich mal genauer anschauen, aber wir haben es nicht gemacht. Warum unsere Daten so ganz der Realität in Form von erhöhten Krankschreibungen oder überhaupt Behandlungen widerspricht, erklären wir uns dadurch, dass unsere Daten die “Wahrheit” (sic) sind, und sich der Mensch jetzt unserer Statistik anpasst.

    Das ist natürlich übertrieben von mir, aber ich hoffe, du siehst, worauf ich hinaus will. Und vielleicht haben sie ja sogar recht. Aber wenn man davon ausgeht, dass ein so großer Teil der Bevölkerung psychisch gestört ist, kann man immer noch nicht einfach freudig feststellen, dass jetzt mehr Leute eine entsprechende Behandlung bekommen, sondern muss immer noch schauen, warum die angeblich schon immer dagewesenen Störungen sich auf ein Mal so negativ auswirken, und warum die Gestörten früher weniger Probleme hatten.

    • #10 Joseph Kuhn
      5. November 2018

      @ foobar407:

      1. Zum Trend: Es wäre für alle interessanter, wenn Sie nicht einfach in den Thread kippen würden, was Ihnen so durch den Kopf geht, sondern vorher selbst mal schauen würden, was es dazu gibt. Hier z.B. eine Übersichtsarbeit von Richter et al. zum Thema, wenn auch schon etwas älter: “Nehmen psychische Störungen zu? Eine systematische Literaturübersicht”.

      2. Zur Häufigkeit: Man spricht zwar von “psychischen Störungen”, aber Ihre Redeweise von den “Gestörten” klingt abwertend. Sie spiegelt die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Störungen wider. Darüber, dass 90 % der Menschen im Laufe eines Jahres wegen einer körperlichen Störungen beim Arzt waren, macht man auch nicht so ein Bohei.

      3. Sie unterstellen, dass Menschen mit psychischen Störungen früher weniger Probleme hatten. Ist das so? Haben Sie dafür einen Beleg? Vielleicht ist das ja so, weil wir heute erwartungskonformer funktionieren müssen als früher, aber vielleicht ist das auch nur so eine Idee, siehe Punkt 1: Bereichern Sie die Diskussion auch mal mit Material, nicht nur mit spontanen Stammtisch-Einfällen.

  9. #11 foobar407
    5. November 2018

    @Kuhn

    Zu 1. Ich bin Laie in dem Gebiet. Das steht gleich im ersten Kommentar. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen keine Literaturübericht zu dem Thema geliefert habe. Ich bezog mich übrigens mit meinem Text nicht einfach auf irgendwas in meinem Kopf, sondern auf Ihren Link in #6

    2. Geschenkt. Ich wollte bestimmt niemanden beleidigen.

    3. Wenn die Leute aufgrund psychischer Probleme häufiger nicht mehr arbeiten können, dann ist das Problem ja wohl offensichtlich größer geworden. Über die häufigeren Krankschreibungen haben Sie doch hier schon berichtet. Das ist zwei Klicks von diesem Artikel entfernt.
    Und während Ihr Artikel von 2011 noch ganz viele Fragen am Ende hat, schreiben Sie in diesem hier einfach: “Da Fachleute davon ausgehen, dass die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht bzw. nicht wesentlich zugenommen hat …“. Und ich frage mich einfach, wie die ganzen Fragezeichen aus 2011 bei Ihnen einfach so verschwunden sind. Aus Ihrem PDF von 2014 kann ich es nicht erkennen.

    • #12 Joseph Kuhn
      5. November 2018

      @ foobar407:

      “keine Literaturübericht”

      Sarkasmus rettet Sie hier nicht. Jeder Mensch ist ein Künstler (Joseph Beuys), jeder Mensch ist ein Philosoph (Karl Popper) und jeder Mensch kann googeln (John Url).

      “Geschenkt”

      Das will ich nicht geschenkt. Es wäre schön, wenn Sie im Zusammenhang mit psychisch Kranken auf Ihre Sprache achten.

      “Wenn die Leute aufgrund psychischer Probleme häufiger nicht mehr arbeiten können, dann ist das Problem ja wohl offensichtlich größer geworden”

      Nein, das ist ein Trugschluss. So gut bilden Krankschreibungen die Gesundheit der Beschäftigten leider nicht ab. Zunächst einmal sind dann deswegen die Krankschreibungen infolge psychischer Störungen häufiger geworden. Warum das so ist, hat viele Gründe, u.a. den etwas offeneren Umgang mit dem Thema. Die Krankschreibung ist ein sozialer Prozess.

      “wie die ganzen Fragezeichen aus 2011 bei Ihnen einfach so verschwunden sind”

      Machen Sie halt wieder ein paar dazu. Fragezeichen schaden bei dem Thema so wenig wie die Zurkenntnisnahme dessen, was die Fachleute schreiben.

  10. #13 Basilios
    5. November 2018

    Nochmals Danke Joseph.

  11. #14 Basilios
    Acca 13
    5. November 2018

    @foobar407

    Hast du das verlinkte Dokument gelesen und wirklich nichts gefunden, was meine Bedenken erklären würde?

    Ich habe es quergelesen, aber in Bezug auf Deine Bedenken wurde ich nicht fündig.

    Vielleicht liegt die Erklärung, bzw. die eigentliche Ursache deiner Bedenken ja auch eher hier:

    Das ist natürlich übertrieben von mir, aber ich hoffe, du siehst, worauf ich hinaus will. Und vielleicht haben sie ja sogar recht.

    …oder vielleicht auch nicht…
    -_-

  12. #15 foobar407
    6. November 2018

    @Basilios

    Ich habe es quergelesen, aber in Bezug auf Deine Bedenken wurde ich nicht fündig.

    Ich habe dir sogar das Kapitel genannt, auf dass ich mich bezog. Es steht auf Seite 8.

    [Es] fällt auf, dass sich die „wahre“ Prävalenz in DEGS1-MH seit dem Bundesgesundheitssurvey 1998 [13] kaum verändert hat. […] Ob also die Prävalenzen wirklich annähernd gleich geblieben sind, muss noch in weiteren Auswertungen entsprechend abgesichert werden.

    -> Ergo mein:
    Wir haben dieses Mal was anderes gemessen als letztes Mal, aber es ist beide Male in etwa das gleiche herausgekommen. Warum das so ist, müsste man sich mal genauer anschauen, aber wir haben es nicht gemacht.

    Und weiter heißt es im Text:
    Hier könnte eine Rolle spielen, dass sich einerseits öffentliche Aufmerksamkeit und Diagnoseverhalten der „Wahrheit“ angenähert haben,

    -> Ergo mein:
    Warum unsere Daten so ganz der Realität in Form von erhöhten Krankschreibungen oder überhaupt Behandlungen widerspricht, erklären wir uns dadurch, dass unsere Daten die “Wahrheit” (sic) sind, und sich der Mensch jetzt unserer Statistik anpasst.

    Für mich wird da etwas zu viel spekuliert. Und die Begriffe “wahre Prävalenz” und “Wahrheit” sind ja immerhin in Klammern gesetzt, sollten aber aus Gründen wissenschaftlicher Integrität in so einer Studie vielleicht lieber vermieden werden.

  13. #16 foobar407
    6. November 2018

    @Kuhn

    Nein, das ist ein Trugschluss. So gut bilden Krankschreibungen die Gesundheit der Beschäftigten leider nicht ab. Zunächst einmal sind dann deswegen die Krankschreibungen infolge psychischer Störungen häufiger geworden. Warum das so ist, hat viele Gründe, u.a. den etwas offeneren Umgang mit dem Thema. Die Krankschreibung ist ein sozialer Prozess.

    Ich verstehe den Punkt gerade in Bezug auf psychische Störungen nicht.

    Zunächst mal würde ich behaupten, dass psychische Störungen immer noch stigmatisiert werden. In wie weit diese Stigmatisierung überhaupt abgenommen hat, und wie genau das im Detail mit den Krankschreibungen korreliert, dazu liest man im Detail nicht mehr viel.

    Zweitens, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen jetzt einfach rechtzeitiger oder entsprechender diagnostiziert werden, frage ich mich, was mit diesen Menschen früher passiert ist.
    Wenn man das mal mit einem Schnupfen vergleicht, den der Arzt als Grippe oder so diagnostiziert und dann korrekt behandelt, dann wird ja verhindert, dass der Patient zum Beispiel eine Lungen- oder Mittelohrentzündung bekommt. Da würde dann gelten: Häufigere Diagnosen mit Schnupfen -> weniger Diagnosen für Lungen- / Mittelohrentzündung. Insofern ist das Gesamtproblem sogar verringert.
    Aber wie sieht das bei einer Depression aus? Wenn jetzt die Diagnose für Depression besser gestellt wird, als früher, was ist mit den damaligen unentdeckten Depressiven früher passiert? Die müssten ja jetzt auch irgendwo fehlen.
    Ich denke, so ganz passt der Vergleich nicht. Insbesondere weil ja die Unfähigkeit zu Arbeiten eher ein Symptom für die Diagnose ist, als einfach nur eine Verschreibung des Arztes. Daher sehe ich da immer noch ein Problem, was größer geworden ist.

    Und natürlich hat eine solche Diagnose eine soziale Komponente, die ganzen Handbücher für psychische Störungen haben ja auch eine kulturelle. Aber das bestätigt meine Bedenken ja eher, dass wir auf diese gesellschaftliche Problematik auch schauen müssen, und nicht nur darauf, wie wir die “wahre” Prävalenz besser im Gesundheitssystem versorgen können.

    Und gestatten Sie mir bitte noch ein Mal ein kurzes Stammtisch-Statement: Wenn es nach mir ginge, würde ich die 30 Stunden Woche bei steigenden Löhnen einführen wollen. Das würde vielen Menschen helfen, und ich, als Laie, würde auch einen Rückgang der psychischen Störungen vermuten.

    Machen Sie halt wieder ein paar dazu. Fragezeichen schaden bei dem Thema so wenig wie die Zurkenntnisnahme dessen, was die Fachleute schreiben.

    Da haben Sie mich jetzt wieder ein wenig beruhigt.

  14. #17 Al il
    9. November 2018

    Zitat
    “Aber wie sieht das bei einer Depression aus? Wenn jetzt die Diagnose für Depression besser gestellt wird, als früher, was ist mit den damaligen unentdeckten Depressiven früher passiert? Die müssten ja jetzt auch irgendwo fehlen.”

    Anekdote aus meiner Verwandtschaft: Ich habe von Verwandten aus der Generation meiner Großeltern und Urgroßeltern gehört, die verschiedene psychische Erkrankungen hatten. Das wurde damals abgetan mit: das Leben kann halt brutal sein, streng dich doch etwas an, du bist einfach zu sensibel, du hast zu viel Fantasie, Kopf hoch! In meiner Generation und der meiner Eltern gibt es natürlich auch psychisch Kranke, die wurden aber alle behandelt/sind in Behandlung.
    Was ist der Unterschied? Die “alten” sind so lange chronisch krank gewesen, bis sie Suizid begangen haben. Die “jungen” leben alle noch und sind sogar zum Teil wieder gesund.

  15. #18 foobar407
    9. November 2018

    @Al il

    das Leben kann halt brutal sein, streng dich doch etwas an, du bist einfach zu sensibel

    Ja. Das Ergebnis der epidemiologischen Studien haben ein wenig diesen Touch: Früher haben die Leute trotz der psychischen Probleme einfach weiter arbeiten können, heute wird man schneller krank geschrieben. Ich halte das für äußerst bedenklich.

    Die “alten” sind so lange chronisch krank gewesen, bis sie Suizid begangen haben. Die “jungen” leben alle noch und sind sogar zum Teil wieder gesund.

    Dagegen spricht die Entwicklung der Suizid-Rate in Deutschland. Sie ist seit den 2000er nur unwesentlich gefallen und seit 2007 sogar ansteigend. Generell ist die Anzahl der Selbstmorde zu gering (Gott sei Dank) um daraus aber irgendwas abzuleiten. Von den 40% der Deutschen mit psychischen Störungen sind wir da ganz weit weg. Außerdem passt die Verteilung nach Geschlecht überhaupt nicht zu deiner Überlegung. Während Frauen häufiger als Männer psychische Störungen haben, sind es bei den Männern mehr Selbstmorde.

    • #19 Joseph Kuhn
      9. November 2018

      @ foobar407:

      “Dagegen spricht die Entwicklung der Suizid-Rate in Deutschland”

      Wogegen oder wofür auch immer die Suizidrate spricht: Wenn man von “früher” redet, ist ein Blick etwas länger zurück interessant. Die Suizide haben nach dem Krieg eher etwas zugenommen und seit Anfang der 1980er Jahre deutlich abgenommen. Seit 2007 nehmen sie wieder leicht zu, übrigens auch in anderen Ländern. 2007/2008 war die Finanzkrise. Was immer das bedeuten mag.

      “Während Frauen häufiger als Männer psychische Störungen haben, sind es bei den Männern mehr Selbstmorde.”

      Ja, aber dafür gibt es bei den Frauen mehr Suizidversuche.

  16. #20 Trottelreiner
    9. November 2018

    @foobar407:

    Das Ergebnis der epidemiologischen Studien haben ein wenig diesen Touch: Früher haben die Leute trotz der psychischen Probleme einfach weiter arbeiten können, heute wird man schneller krank geschrieben.

    Diese Interpretation setzt aber schon eine Menge andere Annahmen voraus, nicht zuletzt die das der Grund der Krankschreibung auch der tatsächliche Grund für die Abwesenheit ist.

    Das affektive Störungen durchaus mit “körperlichen Beschwerden” einhergehen ist bekannt?

  17. #21 Joseph Kuhn
    11. November 2018

    Updates:

    1. Die Ärztezeitung hatte vor ein paar Tagen gemeldet, dass die Psychotherapeuten in Westfalen-Lippe den Passus zur gestuften Versorgung im TSVG über den früheren Patientenbeauftragten Laumann kippen wollen.

    2. Dieses Bemühen zeigt erste Wirkungen: Im Gesundheitsausschuss des Bundesrats wurde letzten Mittwoch eine Empfehlung an den Bundesrat zur Streichung des Passus beschlossen: “Artikel 1 Nummer 51 Buchstabe b ist zu streichen.” Es handelt sich dabei um den oben zitierten § 92 Abs. 6a SGB V.

    Der Gesundheitsausschuss des Bundesrates folgt in seiner Begründung in Teilen der Position der Psychotherapeutenverbände, z.B. dass man zunächst die Evaluation der erst vor kurzem eingeführten “psychotherapeutischen Sprechstunde” zur Abklärung des Therapiebedarfs im Vorfeld einer Psychotherapie abwarten solle und teilt auch deren Befürchtung, dass die Regelung zu einer Zugangsbürokratisierung führen könnte.

    Allerdings scheint mir, dass jetzt leicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet sein könnte. Die psychotherapeutische Sprechstunde hilft ja nicht bei der Steuerung der Versorgung derjenigen Patienten, die zunächst beim Hausarzt oder beim Kinderarzt auflaufen. Würden die alle in die psychotherapeutische Sprechstunde verwiesen, wäre die Psychotherapie lahmgelegt. Allerdings können diese Patienten auch nicht alle von den Hausärzten oder Kinderärzten weiterbehandelt werden. Gleiches gilt für Beratungsstellen, bei denen auch viele Patienten zuerst ankommen. Was sollen sie also tun? Und braucht es, selbst wenn man eine gute, unbürokratische Form der Versorgungsteuerung finden sollte, nicht doch auch mehr Therapieplätze? Die Dinge sind noch nicht zuende gedacht.

  18. #22 foobar407
    11. November 2018

    @Trottelreiner

    Diese Interpretation setzt aber schon eine Menge andere Annahmen voraus, nicht zuletzt die das der Grund der Krankschreibung auch der tatsächliche Grund für die Abwesenheit ist.

    Ja, klar. Ich gehe ganz pauschal davon aus, dass niemand (von statistischer Relevanz) eine psychische Störung simuliert, um krank zu feiern, wenn es denn Kopfschmerzen auch getan hätten. Es passt jetzt auch keine Statistik, die wir hier im Artikel und Thread schon hatten, zu Ihrer Idee.

    Das affektive Störungen durchaus mit “körperlichen Beschwerden” einhergehen ist bekannt?

    Was meinst du denn konkret? Rückenschmerzen? Die Entwicklung dort passt jedenfalls nicht als Ausgleich zum Anstieg bei den psychischen Störungen.

    • #23 Joseph Kuhn
      11. November 2018

      @ foobar407:

      “passt jedenfalls nicht als Ausgleich”

      Die Daten von Statista, auf die Sie verlinkt haben, sind AU-Tage der TK ab dem Jahr 2000. In den ersten Jahren gehen sie übrigens deutlich zurück. Aber man sollte nicht einfach irgendeine Statistik auf den Tisch legen. Zu prüfen wäre, welche Diagnosen relevant sind. Nur Rückenschmerzen, also ICD M54? Warum nicht M53 (sonstige Rückenerkrankungen)? Warum die AU-Tage – oder wären die AU-Fälle in dem Fall einschlägiger? Und sollte man sich vielleicht speziell die länger dauernden Rückenerkrankungen anschauen, weil auch psychische Störungen lange andauern? Wie sieht es bei den anderen großen Krankenkassen aus? Welches Zeitfenster wäre sinnvoll, ab 2000 oder früher? Könnte es sein, dass sich das Wechselspiel zwischen den beiden Diagnosegruppen Rücken und Psyche im Laufe der letzten Jahre verändert hat und jetzt Rückenschmerzen zwar nicht mehr so oft für eine Depression o.ä. stehen, aber trotzdem wieder zunehmen, z.B. weil es mehr stressbedingte oder sitzbedingte Rückenschmerzen gibt?

      Die “Ausgleichsthese” wird zumindest immer wieder diskutiert, siehe z.B. schnell ergoogelt
      https://psychologische-hochschule.de/science-mag/wp-content/uploads/2016/02/Hype-um-die-kranke-Seele.pdf oder https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/krankschreibungen-wegen-psychischer-leiden-auf-rekordniveau-13881044.html

  19. #24 Sandra
    19. November 2018

    Studie findet Infektion mit Herpesviren bei verstorbenen Menschen mit bipolaren und schweren depressiven Störungen:
    https://www.uni-wuerzburg.de/aktuelles/pressemitteilungen/single/news/ueberraschender-fund-in-nervenzellen/

    Alle Herpesviren sind persistierend, daher ist auch ein Vererben möglich (hängt sich an die Enden menschlicher DNA).
    Und auch ansteckend (Speichel).

    Passt wiederum zu den berichten von Prof. Tebartz van Elst, der Kortisontherapie einsetzt um die Entzündung im Gehirn bei Schizophreniepatienten herunterzufahren.
    Ob das langfristig die richtige Methode ist? Wenn in Wirklichkeit eine schwere Infektion vorliegt, dann wird die dadurch nicht weggezaubert.

    Es gibt auch eine ältere Studie, welche Bornaviren bei depressiven Menschen gefunden haben und mit einem Virustatika erfolgreich behandelt wurde.

    • #25 Joseph Kuhn
      19. November 2018

      @ Sandra:

      Danke. Interessante Information. Es gibt z.B. auch Zwangsstörungen als Folge einer Streptokokken-Infektion (die sog. PANDAS).

  20. #26 Joseph Kuhn
    17. Dezember 2018

    Update:

    Spahns Äußerungen, dass es dort, wo die meisten Psychotherapeuten seien, die längsten Wartezeiten gebe und Freiburg Spitzenreiter sei (“Die Stadt mit dem höchsten Versorgungsgrad in der psychotherapeutischen Versorgung ist Freiburg; die Stadt mit den längsten Wartezeiten ist – Freiburg”), im Faktencheck des ZDF:
    https://www.zdf.de/nachrichten/heute/faktencheck-jens-spahn-psychotherapie-reform-100.html

    Dass Spahn von Trump die Methode der alternativen Fakten übernommen hat, glaube ich nicht, aber er sollte darauf achten, dass ihm seine Leute gute Daten für seine Reden zusammenstellen (oder auf sie hören, falls sie das tun). In dem Fall legen nämlich seine falschen Daten falsche gesundheitspolitische Schlussfolgerungen nahe.