Immer mehr Fälle im Versorgungssystem
Auf Gesundheits-Check ist schon mehrfach darüber berichtet worden, dass die psychischen Störungen in den letzten Jahren verstärkt im Versorgungssystem angekommen sind, im ambulanten wie im stationären Bereich. Da Fachleute davon ausgehen, dass die Erkrankungshäufigkeit selbst nicht bzw. nicht wesentlich zugenommen hat, ist das im Prinzip eine erfreuliche Entwicklung, weil es bedeutet, dass psychische Störungen nicht mehr so oft wie früher unbehandelt bleiben. Das manchmal in den Medien verbreitete Bild, heute würde jeder mit jedem Wehwehchen zum Therapeuten gehen, stimmt trotzdem nicht. Studien zeigen immer wieder, dass ein erheblicher Teil der Menschen mit gravierenden psychischen Störungen dennoch nicht oder nicht zeitnah in Behandlung kommt. Vor kurzem hat z.B. das Robert Koch-Institut anhand der Daten seines Gesundheitsmonitorings darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der Erwachsenen mit einer depressiven Symptomatik nicht in Behandlung sind.
Diese angesprochene Dynamik im Versorgungssystem spiegelt sich dabei einerseits in steigenden Fallzahlen wieder, seien es Behandlungsfälle, Krankschreibungen, Frühberentungen oder Psychopharmakoverordnungen, andererseits auch in einer Verbesserung des Versorgungsangebots.
Exemplarisch sei hier kurz die Entwicklung im ambulanten Bereich beschrieben, dort wird der ganz überwiegende Teil der psychischen Störungen versorgt. Bei den nichtärztlichen Psychotherapeuten, also den Psychologischen Psychotherapeuten (für erwachsene Patienten) und den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (für die Heranwachsenden) gab es beispielsweise in der vertragsärztlichen Versorgung in den letzten fünf Jahren einen Zuwachs von 19.991 Therapeuten im Jahr 2013 auf 25.297 im Jahr 2017, also gut 25 % mehr. Die Zahl der ärztlichen Psychotherapeuten stieg im gleichen Zeitraum von 5.631 auf 6.121, also um knapp 10 %, die der Nervenärzte und Psychiater von 5.758 auf 5.877, um 2 %. Viele psychische Probleme werden allerdings nicht fachärztlich versorgt, sondern von Kinderärzten und Hausärzten oder von Einrichtungen der komplementären Versorgung aufgefangen, z.B. Erziehungsberatungsstellen, Suchtberatungsstellen usw.
Trotzdem gibt es vor allem bei der Psychotherapie lange Wartezeiten. Der letzten Wartezeiten-Studie der Bundespsychotherapeutenkammer zufolge lag die durchschnittliche Wartezeit auf eine Richtlinienpsychotherapie (die von den Kassen finanziert wird) bei fast 20 Wochen. Auf eine Sprechstunde, ein Angebot zur schnelleren Abklärung des Therapiebedarfs, musste man im Schnitt fast 6 Wochen warten und auf eine (kurze) Akuttherapie im Krisenfall immerhin auch noch 3 Wochen.
Was tun?
Vermutlich wäre eine reine Mengenausweitung der fachärztlich-psychotherapeutischen Kapazitäten keine zufriedenstellende Antwort auf diese Situation. Es geht auch um eine bessere Steuerung des Versorgungsbedarfs. So wie nicht jede depressive Episode in der Klinik behandelt werden muss, muss auch nicht jede Belastungsreaktion psychotherapeutisch versorgt werden. Die Frage ist, wie man das organisieren kann, ohne ungewollt das Gegenteil zu erreichen, z.B. indem man die Zeitkontingente der Therapeuten über Gebühr dafür aufwendet, Behandlungsbedarfe abzuklären und Beratungsleistungen zu alternativen Angeboten zu erbringen. Eine Ausweitung der Sprechstundenleistungen beispielsweise führt noch nicht zu mehr Therapieplätzen.
Gesundheitsminister Spahn hat insofern durchaus Recht, wenn er darauf hinweist, dass man über eine bessere Versorgungssteuerung nachdenken muss, wie er es in der Bundestagssitzung am 26. September dieses Jahres getan hat (siehe Plenarprotokoll S. 5329). Versorgungssteuerung ist aber immer auch mit der Frage danach verbunden, wer steuert und in wessen Interesse – eine Frage, hinter der im Gesundheitswesen unvermeidlich auch die nach Geld, berufsständischen Rivalitäten und Einfluss steht. In diesem Versorgungssegment meint ohnehin schon jeder, die jeweils anderen suchten sich ihre Patienten nach Belieben aus – die psychiatrischen Kliniken werfen das den psychosomatischen Kliniken vor, die Psychiater den Psychotherapeuten und vice versa. Spahns Bemerkung in der gleichen Bundestagssitzung, ein Psychiater habe „im Schnitt 1000 Patienten im Quartal, in der Psychotherapie gibt es im Schnitt 50 Patienten“, war vor diesem Hintergrund nicht nur nicht hilfreich, sondern befeuert eben jene Hintergrundkonflikte in ganz unnötiger Weise, denn Psychiater machen in der Regel eine ganz andere Arbeit als Psychotherapeuten. Wenn sie psychotherapeutisch arbeiten, schaffen sie natürlich auch keine 1000 Patienten im Quartal. So viele Arbeitsstunden hat ein Quartal nicht, ganz abgesehen davon, dass niemand rund um die Uhr wie am Fließband Psychotherapie machen kann, ohne nach kurzer Zeit selbst eine Therapie zu brauchen.
Das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG): Teil der Lösung oder Teil des Problems?
Im nun zur Lesung im Bundestag anstehenden „Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)“ gibt es einen Passus, der das Thema Versorgungssteuerung anspricht: Der verabschiedete Kabinettsentwurf für § 92 Abs. 6a Sozialgesetzbuch V sieht vor:
„Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt in den Richtlinien Regelungen für eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung einschließlich der Anforderungen an die Qualifikation der für die Behandlungssteuerung verantwortlichen Vertragsärzte und psychologischen Psychotherapeuten.“
Von der terminologischen Ungeschicklichkeit der „psychologischen Psychotherapeuten“ einmal abgesehen, die viele berufsrechtlich als „Psychologische Psychotherapeuten“ lesen und sich fragen, ob die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mal wieder vergessen wurden, wird die Gretchenfrage die nach den konkreten Steuerungsmechanismen sein. Wer soll wem welche Fälle zuweisen? Wenn die Patienten erst zum Psychiater müssen, würde das angesichts der oben genannten kleinen Zahl an Psychiatern absehbar eine Flaschenhalsproblematik der besonderen Art produzieren. Außerdem stünde damit das direkte Zugangsrecht der Patienten zu den Psychotherapeuten infrage, diese wiederum wären eine Art Auftragnehmer der Psychiater. Das kann also fachlich und vom Verhältnis der Berufsgruppen zueinander nicht gut gehen. Alternativ könnte man überlegen, wie Kinder- und Hausärzte, bei denen viele Patienten zuerst ankommen, besser als bisher entscheiden, wen sie weiterschicken und wen nicht. Aber werden sie sich dann nicht genau die Patienten zum Verbleib aussuchen, die ihnen aus welchem Grund auch immer angenehmer sind? Oder sollte man von der späteren Versorgung unabhängige Stellen schaffen, die Versorgungsempfehlungen für die spezifischen Angebote aussprechen? Ob das praktikabel ist? Muss dann der Hausarzt, bevor er eine leichte Depression behandelt, erst an diese Stelle verweisen, obwohl die Sache klar ist? Oder ein Psychotherapeut, zu dem ein Patient mit einer Zwangsstörung kommt – Fall eigentlich klar – muss den Patienten erst in diese Abklärungsrunde schicken?
Um die konkrete Ausgestaltung dieser Regelung wird es absehbar Streit geben. Ob es aus der Versorgungsforschung genug evaluierte Modelle gibt, um zu entscheiden? Möge etwas dabei herauskommen, was den Zugang zur Psychotherapie nicht noch mehr erschwert und verkompliziert. Patienten mit psychischen Störungen haben schließlich per definitionem nicht das beste Nervenkostüm.
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