Der Protest von hundert Lungenärzten gegen den wissenschaftlichen Mainstream in Sachen Luftschadstoffen hat politisch erhebliche Wellen geschlagen. Wenn die Sterne günstig stehen, kann man offensichtlich auch ohne Fachkompetenz weit kommen. Ob das der Vorsitzenden der jungen Liberalen, Ria Schröder, mit ihrer Forderung nach einer Masernimpfpflicht für Kinder auch gelingt, glaube ich nicht. Das Thema will ich aber gar nicht mehr ausbreiten, dazu gibt es hier auf Gesundheits-Check genug Blogbeiträge. Die Liberalen fordern die Masernimpfpflicht nicht zum ersten Mal, sie scheinen Gefallen daran gefunden zu haben, vielleicht als Ausgleich dafür, dass sie gegen ein Tempolimit sind, gegen Auflagen für die Zuckerindustrie, gegen Tabaksteuererhöhungen und überhaupt gegen alles, was sonst das Leben von Kindern retten kann. Eine Art symbolische Wiedergutmachung sozusagen. Aber sie sollten dann wenigstens die Impfpflicht für die Influenzaimpfung fordern, da geht es wirklich um viele Menschenleben. Gut, das ist dann wieder die Sache mit der Fachkompetenz.
Die ist in einer anderen Causa zweifellos gegeben. Es sind zwar nur drei Autoren, kein Lungenarzt dabei, aber sie wissen, wovon sie reden. Katherine M. Flegal, John P.A. Ioannidis und Wolfram Doehner haben gerade einen Artikel veröffentlicht, der eine Metaanalyse der Global BMI Mortality Collaboration (GBMC) aus dem Jahr 2016 kritisiert. Die kam auf der Basis der Arbeit von mehreren hundert Wissenschaftlern zu dem Ergebnis, dass Übergewicht doch schon bei recht mäßigen BMI-Werten die Sterblichkeit erhöht. Ein paar Jahre vorher hatte ein Team um Katherine Flegal nach der Auswertung umfangreicher CDC-Daten festgestellt, dass Menschen mit leichtem Übergewicht, also einem BMI von über 25, aber noch unter 30, das niedrigste Sterberisiko haben, niedriger als die Normalgewichtigen.
Gegen die Arbeit von Flegal et al. gab es von Anfang an heftige Kritik. Die Debatte ging seitdem hin und her, zuletzt gab es vermehrt Studien, die eine erhöhte Mortalität schon bei leichtem Übergewicht sahen, und dann eben 2016 die Metaanalyse der GBMC. Nun also eine geharnischte Gegenrede. In der Adipositas-Debatte geht es so ähnlich zu wie in die Dieseldebatte. Nur auf einem ganz anderen Anspruchsniveau. Katherine Flegal wird von Wikipedia als „one of the most highly cited scientists in the field of the epidemiology of obesity“ eingeführt. Bei Researchgate wird ihr Hirschfaktor, ein Maß für das Zitiertwerden, mit 98 angegeben, ein sehr hoher Wert. Zum Vergleich: Der bekannte Klimaforscher Schellnhuber, ein Wissenschaftler mit hunderten von Publikationen, hat bei Researchgate einen Hirschfaktor von 54. Katherine Flegal ist derzeit an der Stanford University, vorher war sie am National Center for Health Statistics der CDC, den Centers for Disease Control and Prevention. John Ionnidis ist seit seinem berühmten Papier „Why Most Published Research Findings Are False“, das manchen Leuten als meistzitierte epidemiologische Publikation der Welt gilt, so etwas wie ein Star unter den Epidemiologen und auch in breiteren wissenschaftsinteressierten Kreisen bekannt geworden. Hirschfaktor 145, ebenfalls Stanford. Wolfram Doehner ist an der Berliner Charite, Hirschfaktor 48. Man muss das mit dem Hirschfaktor nicht überbewerten, es soll nur zeigen, dass hier keine akademischen Leichtgewichte am Werk sind.
Die drei werfen nun der GBMC-Metaanalyse schwerste methodische Fehler und unzulässige Schlussfolgerungen vor: „Given the major flaws in the selection process, in the adequacy of the data, in the data analysis, and in the interpretation, the GBMC conclusions cannot be trusted as a guide to action, either for clinical decisions or for public health in general.“
Rumms! Ob nach dem jahrelangen Hin und Her in der Adipositas-Debatte die Erklärung zum Interessenkonflikt („The authors declare that no conflict of interest relevant to this article exists“) bei Katherine Flegal jenseits des finanziellen Aspekts so ganz ernst zu nehmen ist, sei dahingestellt. Natürlich ist sie hoch engagiert und verteidigt auch ihre eigene Arbeit. Aber die Kritik der drei ist substanziell und sie ist ein Paukenschlag. Die GBMC-Autor/innen werden darauf sicher reagieren (oder haben es schon getan). Ich traue mir in dieser Auseinandersetzung kein Urteil zu, da bin ich nur Zuschauer eines wissenschaftlichen Streits mit harten Bandagen, aber auf hohem Niveau. Was ein paar hundert Lungenärzte dazu sagen, dürfte in dem Fall niemand interessieren. Bei der Dieseldebatte wäre das auch die richtige Reaktion gewesen. Dass ein Bundesminister die Überprüfung der WHO-Grenzwerte für Adipositas fordert, muss man wohl ebenfalls nicht befürchten.
Kommentare (29)