Alle Jahre wieder, kommt die Impfpflichtdebatte. Diesmal im Chor vorgetragen von Lauterbach und Spahn, die zurzeit wie Hase und Igel darum ringen, im Wettstreit um undurchdachte Vorschläge die Nase vorn zu haben. Zuletzt hatte sich Spahn mit seinen unausgegorenen Ideen zur Psychotherapie einen Vorsprung erkämpft, den Lauterbach nur durch eine absolut unsinnige Behauptung zur Bürgerversicherung halbwegs wettmachen konnte. Nun wollen beide gemeinsam eine Impfpflicht, die FDP assistiert, eine Masernimpfpflicht für Kinder soll her. Die selbsternannte Freiheitspartei ist bei dem Thema schon länger vom Glauben an die Freiheit abgefallen.
An den Argumenten für und wider eine Masernimpfpflicht hat sich nichts geändert. Einerseits: Die Masernimpfquoten der Gesamtbevölkerung reichen nicht für die Herdenimmunität, also die Elimination der Masern in Deutschland. Es kommt immer wieder zu Masernausbrüchen in Deutschland, bei Kindern nicht zuletzt in Einrichtungen mit anthroposophischer oder anderweit impfskeptischer Kundschaft. Andererseits: Die Masernimpfquoten bei den Kindern steigen seit Jahren auch ohne Impfpflicht, das Gerede von der „steigenden Impfmüdigkeit“ ist faktenfrei, die Impfquoten der Kinder sind im Einschulungsalter bestens, bei den Zweijährigen gut – vielleicht von Baden-Württemberg und aufgrund besonderer Verhältnisse von Sachsen abgesehen, dafür gibt es erhebliche Impflücken bei jungen Erwachsenen, die Erfahrungen mit der Impfpflicht z.B. in Italien sind nicht ermutigend, die verfassungsrechtlichen Bedenken erheblich und überhaupt sind die Masern nicht die impfpräventable Krankheit, die ganz oben auf der gesundheitspolitischen Prioritätenliste stehen sollte. Influenza und HPV verdienen eigentlich mehr Aufmerksamkeit, wenn man sich die Zahl der Sterbefälle anschaut. Das alles wurde hier auf Gesundheits-Check und andernorts bis zum Überdruss durchdiskutiert.
Als „ultima ratio“, als letztes Mittel, wurde die Impfpflicht bei den Masern immer bezeichnet. Das würde bedeuten, dass man vorher die anderen Mittel ausgeschöpft hat. Aber wo ist denn die Aufstockung des Personals in den Gesundheitsämtern, damit sie in Kitas, Schulen und Universitäten gehen können, um zu informieren und Impflücken zu schließen? Auch in die Berufsschulen übrigens. Wo sind die großen Masern-Aufklärungskampagnen, wie oft hat z.B. der Deutsche Fußballbund in den Stadien für die Masernimpfung geworben, wie viele Fernsehspots kommen dazu im Vorabendprogramm, wie oft hat Herr Spahn darüber im Bundestag gesprochen, oder sein Helferlein Lauterbach? Wie oft wird bei den U-Untersuchungen oder beim Check-Up-35 der Impfstatus von Eltern kleiner Kinder überprüft? Was hat man unternommen, um sicherzustellen, dass wenigstens das Personal in Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen geimpft ist? Wo bleibt die fernsehübertragene Durchsicht der Impfpässe der Minister, Abgeordneten, Landräte und Bürgermeister mit öffentlichkeitswirksamer Impfung der Ungeimpften? Und was genau will man eigentlich mit einer Masernimpfpflicht für Kinder erreichen, wenn die Impflücken woanders sind?
In den meisten Medienberichten werden solche Fragen gar nicht erst gestellt. Im Gegenteil, alle Tugenden der evidenzbasierten Medizin werden über Bord geworfen. Die Datenlage interessiert nicht, hundert Lungenärzte könnten nicht schlimmer sein. Die Süddeutsche Zeitung tut sich heute mit einem besonders schrägen Kommentar einer eigentlich an Evidenz interessierten Journalistin hervor, einer geradezu hymnischen Verehrung von Hase und Igel, oder besser Hase und Hase:
„Es ist selten, dass man deutsche Politiker für ihre Haltung bewundern muss. Karl Lauterbach (SPD) und Jens Spahn (CDU) allerdings verdienen Bewunderung, wenn sie im Kampf gegen die Masern nun erneut eine Impfpflicht fordern. (…) Man kann Lauterbach und Spahn nur wünschen, dass sie diese Herausforderung meistern. Es wäre ein Fortschritt für die ganze Welt.“
Karl und Jens retten die Welt. Diese Kaiser Wilhelm-Rhetorik hat bei dem Thema gerade noch gefehlt. Fortschritt für die ganze Welt wäre, wenn Lauterbach und Spahn gemeinsam ein Waffenexportverbot in Krisenländer durchsetzen würden, oder einen effektiven Klimaschutz. Auch ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen würde mehr Menschenleben retten als die Masernimpfpflicht, wenngleich kein Fortschritt für die ganze Welt, die hat das schon. Für die Gesundheitspolitik in Deutschland wären ansonsten z.B. die Krankenhausinfektionen ein Feld, auf dem sich gesundheitspolitische Helden beweisen könnten, der Antibiotikaeinsatz in der Tiermast, die Polypharmazie mit ihren oft tödlichen Folgen, oder, mit mehr als Symbolpolitik, auch die Pflege, ganz zu schweigen von der Bekämpfung des nach wie vor hohen Tabakkonsums der Erwachsenen mit vielen tausend vorzeitigen Sterbefällen. Aber das würde ein strategisches, datengestütztes Vorgehen bedeuten. Wo man doch schon die angefangenen Projekte wie die Telematik-Infrastruktur oder die Pflege nicht hinkriegt.
Ein Glück, dass es für medienwirksame Debatten in der Gesundheitspolitik die Masernimpfplicht gibt. Und was für ein Ärgernis. Mich regt das inzwischen auf.
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[Edit: Beschriftung der Grafik korrigiert, dargestellt ist natürlich die erste Impfung, nicht die zweite, JK]
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