Die Masern beschäftigen derzeit – zu Recht – die Gemüter. In diesem Jahr gibt es wieder mehr Erkrankungen und die Masern sind nicht, wie manchmal behauptet, eine harmlose Kinderkrankheit. Ich habe hier trotzdem mehrfach meine Vorbehalte gegen eine Masernimpfpflicht geäußert, vor allem gegen eine Masernimpfpflicht für Kinder mit der Zielsetzung, die Masern zu eliminieren. Da passen einfach Ziel und Mittel nicht zusammen. Eine Masernimpfpflicht vor Kita mit dem Ziel, die Kitakinder besser zu schützen, ist eine andere Geschichte.
Dass die Masernimpfung hochgradig sinnvoll ist und der Nutzen die seltenen Risiken bei weitem überwiegt, ist eigentlich nicht zu bestreiten. Eigentlich nicht, manche tun es natürlich trotzdem, wir Menschen sind zu vielem fähig. An der positiven Bilanz ändert sich auch nichts dadurch, dass mit zunehmender Durchimpfung der Bevölkerung der Nestschutz für Säuglinge abnimmt, weil geimpfte Mütter dem Kind nicht so viele Antikörper mitgeben wie Mütter, die die Krankheit durchgemacht haben. Mütter, die nicht geimpft sind und nie Masern hatten, können noch weniger Nestschutz mitgeben. Ohne Impfprogramm würden allerdings früher oder später wieder alle Kinder erkranken, mit den aus der Vergangenheit bekannten hohen Sterbezahlen.
Aktuell sterben in Deutschland pro Jahr im Schnitt 1-2 Menschen an den Masern. Hinzu kommen 3-4 Sterbefälle der immer tödlich endenden Spätkomplikation SSPE. Sie tritt einige Jahre nach der Infektion auf, weil die Viren in seltenen Fällen im Gehirn überdauern können. Impfkritiker bringen das nun mit der Impfung in Verbindung: Weniger Netzschutz bedeute ein höheres SSPE-Risiko. Das mag auf das einzelne an Masern erkrankte Kind zutreffen, aber nicht auf die Kinder insgesamt, denn mit den Masernzahlen gehen auch die SSPE-Fälle zurück.
Die folgende Grafik zeigt auf zwei Achsen den Trend der Masernerkrankungen seit Beginn der Meldepflicht und den Trend der SSPE-Krankenhausfälle. Bei den Masernfällen muss man berücksichtigen, dass die Meldepflicht die Zahl der Erkrankungen wohl unterschätzt, bei den Krankenhausfällen muss man berücksichtigen, dass es eine Fallstatistik ist, keine Personenstatistik. Wird jemand mehrfach im Jahr behandelt, gibt es mehrere Krankenhausfälle. Daher sind die Fallzahlen gegenüber den SSPE-Sterbefällen recht hoch.
Der Trend geht in beide Male nach unten (bei den SSPE-Sterbefällen übrigens auch). Das RKI schreibt, dass SSPE etwa 6-8 Jahre nach der Maserninfektion auftritt. Der Verlauf kann sich über einige Jahre hinziehen, so dass die SSPE-Sterbefälle aus der amtlichen Statistik den Masernjahren nicht gut zuzuordnen sind. Ich weiß nicht, ob es mit den Krankenhausfällen besser geht oder ob das Datenkaffeesatzleserei ist. Es könnte z.B. sein, dass sich die Relation zwischen Krankenhausfällen und behandelten Personen über die Jahre verändert hat, d.h. zusätzlich zum langfristig rückläufigen Trend der Erkrankten könnte auch ein Wandel der Versorgungsform eine Rolle spielen.
Auffällig ist jedoch, dass der Peak bei den SSPE-Krankenhausfällen 2007 vom zeitlichen Abstand her zu den vielen Masernerkrankungen 2001/2002 gehören könnte, der kleinere Peak 2011 zu der kleineren Häufung von Masernfällen 2006. Die Masernfälle 2001/2002 waren vor allem in Bayern und Nordrhein-Westfalen aufgetreten, in den beiden Ländern gab es 2007/2008 vermehrt SSPE-Krankenhausfälle. Und zu einer Krankheitshäufung 2006 in Nordrhein-Westfalen könnten etwas erhöhte SSPE-Krankenhausfälle dort rund um das Jahr 2013 gehören. Die erhöhten Masernfallzahlen 2015 – etwa so viele wie 2006 – würden dann wieder einige SSPE-Krankenhausfälle mehr Anfang der 2020er Jahre erwarten lassen, diesmal vor allem in Berlin, wo ein großer Teil der Masernfälle 2015 aufgetreten war.
Wie gesagt, vielleicht ist das nur Zufall und spekulatives Data-Mining, aber ziemlich sicher ist, dass Jahre mit mehr Masernerkrankungen (vor allem im Säuglingsalter) mit einigem zeitlichen Verzug auch zu etwas mehr SSPE-Fällen führen. Das Risiko für eine SSPE beträgt für Kinder, die im Alter unter 5 Jahren an Masern erkranken, 1∶1.700 bis 1∶3.300. Die akute Infektion gut überstanden zu haben, ist also keine Garantie dafür, dass – sehr selten – nicht noch etwas nachkommt. Die Masernimpfung kann das recht zuverlässig verhindern. Ob es eine Masernimpfpflicht auch kann, ist eine andere Frage. Das hängt davon ab, wie sie ausgestaltet ist und wie sie umgesetzt wird.
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