Vom Impfen …
Im Moment reibt man sich etwas ungläubig die Augen, welche Dynamik die Debatte zur Masernimpfpflicht bekommen hat. Jahrelang schaut die Politik zu, wie sich Masernausbrüche regelmäßig wiederholen, lässt den ÖGD verkommen und verteidigt das Recht der Impfgegner auf Dummheit, und dann, auf einmal, die Kehrtwende. Impfpflicht, so schnell es geht. Da haben Lauterspahn was losgetreten. In Brandenburg hat der Landtag schon eine Impfpflicht beschlossen, Nordrhein-Westfalen will folgen, auch Sachsen, weitere Länder schwanken zwischen „Dabeisein ist alles“ und Abwarten.
Keine Frage: Masern sind keine harmlose Kinderkrankheit, die Masernimpfung ist hochgradig sinnvoll, sie vermeidet Leid und rettet Leben und Menschen in öffentlichen Einrichtungen, z.B. Kinder in Kitas und Schulen, sollen bestmöglich geschützt werden. Vor 10 oder 20 Jahren, als die Impfquoten noch deutlich niedriger lagen, hätte ich eine Impfpflicht für sinnvoller gehalten, aber gut, die Zeit scheint nach Auffassung vieler Leute jetzt dafür reif zu sein.
Warum? Manche sagen, die Impfpflicht passt in die Rückkehr des autoritären Staats. Politische Entschlossenheit bis zur Härte ist im Moment – in bestimmten Fällen, wir kommen noch dazu – weltweit en vogue, vom „we first“ vieler Staaten über den Umgang mit Flüchtlingen bis hin zur Regulation des Internets oder den unverkennbaren Sympathien für starke Führer: Orban, Erdogan, Bolsonaro, Duterte, Putin, Trump. Pause. Lauterspahn.
… zum großen Ganzen
Vielleicht. Aber ich glaube, es fällt mehr Licht auf die Sache, wenn man sich die Diskrepanz vergegenwärtigt zwischen der Einsicht, dass es mit dem Klimawandel, dem Ressourcenverbrauch sowie dem Umgang mit sozialen Problemen wie Wohnungsmangel, Pflegenotstand oder prekärer Beschäftigung so nicht weitergehen kann, und der Bereitschaft, daran etwas zu ändern. Die genannten Probleme sind höchst bedrohlich, jeder sieht es. Weiter so, das neoliberale Laufenlassen der Dinge ist erkennbar keine gute Option. Nur, was soll man tun? Die DDR will schließlich keiner zurückhaben. Slavoj Žižek wird der Satz „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus“ zugeschrieben. Wenn man so will, eine kritische Paraphrasierung des Thatcher-Diktums „there is no alternative“, oder der These vom „Ende der Geschichte“ als Ergebnis des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus (Francis Fukuyama), mit der kapitalistischen Ordnung als steady state des Universums.
Wenn man schaut, wie die Politik und die Parteigänger des Status quo mit der Fridays for Future-Bewegung umgehen, wie zynisch viele bei dem Thema über die Kinder sprechen, die sich um ihre Zukunft sorgen und dabei die Wissenschaft auf ihrer Seite haben, auch wenn sie natürlich nicht alle „globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen“ (Christian Lindner) – wer tut das schon, liegt die Frage nahe, was motiviert eigentlich die Lindners, Scheuers und Spahns dieser Welt? Die realen, und die in uns. Wer glaubt, sie vertreten einfach eine rein rationale Sicht der Dinge, kann hier aufhören, weiterzulesen.
Carolin Emcke hat letzten Freitag in der Süddeutschen dazu geschrieben: „Sich als Politiker zu echauffieren, dass jemand politische Aussagen beim Wort nimmt, als Politiker zu belächeln, dass jemand überhaupt Erwartungen an die eigene Regierung richtet, Lobbyismus zu unterstellen, weil genuin politische oder soziale oder ökologische Nöte schon gar nicht mehr gedacht werden können, entlarvt nur einen brutalen Zynismus, der im toten Winkel der eigenen Wahrnehmung liegt.“ Zynismus ist eine Haltung der Resignation. Eine Abgeklärtheit, die nichts mehr verändern will, die das Elend sieht, aber die belächelt, die glauben, man könne etwas dagegen tun.
Carolin Emcke sieht aber gerade bei der Fridays for Future-Bewegung das lange erwartete Licht am Ende des Tunnels der Alternativlosigkeit: „Nach all den Bewegungen, die lediglich ihren antiaufklärerischen, antidemokratischen Unmut auf die Straßen trugen, ist eine Bewegung, die leidenschaftlich an die Wissenschaft und Vernunft appelliert, die aus demokratischen Verfahren nicht aussteigen, sondern sie eingehalten sehen will, die nicht in nationalistische Regression verfällt, sondern lokale mit internationalen Bedürfnissen zusammen zu denken weiß, ein beglückender Horizont.“
Von Freud erklärt
Carolin Emcke artikuliert in ihrem Kommentar ein paar Stichwörter – den toten Winkel der eigenen Wahrnehmung, die Abwehr von Vernunft, die Regression, Bedürfnisse und Glück – die geradezu nach einer Freudschen Interpretation rufen. Ich bin kein Anhänger der Psychoanalyse, aber als Experimentierfeld des Denkens kann man sich ja einmal darauf einlassen.
Da gibt es also so etwas wie die Vaterfigur, den Kapitalismus. Der entpuppt sich zunehmend als nicht nur guter Vater, er mobilisiert Aggressionen. Aber er ist der einzige Vater, und ein starker Vater. Man kann ihn nicht einfach abschaffen, töten, man heißt schließlich nicht Ödipus und wer will schon die eigene Mutter heiraten. Wer wäre überhaupt in diesem Zusammenhang die Mutter? Die Alternative? Egal. In solchen Situationen kommt es, so die Psychoanalyse, zur Mobilisierung von Abwehrmechanismen. Die aggressiven Energien werden auf ein anderes, weniger mächtiges Ziel umgelenkt. Wir zeigen, dass wir uns um die Gemeinschaft kümmern und nicht nur Egoisten sind, indem wir eine Impfpflicht machen. Damit schützen wir die Schwachen und entlasten uns moralisch. Deswegen ist es auch gar nicht so wichtig, ob man mit der jeweils konkret anvisierten Impfpflicht das Ziel, mit dem sie begründet wird, auch erreicht. Es geht um symbolische Politik. Dem widerspricht übrigens nicht, dass eine Vorgabe, möglichst nur geimpfte Kinder in Kitas oder Schulen zu lassen, trotzdem sinnvoll ist – um kein Missverständnis aufkommen zu lassen.
In Form eines Gesetzes, das nach Lacan immer im „Namen des Vaters“ spricht, finden wir den emotionalen Ausgleich. Wenn wir damit unsere fürsorgliche Seite zeigen, die neoliberale Verantwortungslosigkeit damit bekämpft haben, bleibt sogar noch Raum dafür, den starken Führer zu lieben. Pause. Und sei es Lauterspahn, einen Trump haben wir ja nicht.
Sie halten das für ein Phantasma, eine wilde Geschichte? Vermutlich ist es das. Es sind auf jeden Fall Spekulationen über die Welt hinter den Dingen, also die Ebene, wo neben gesellschaftstheoretischen Überlegungen auch Verschwörungstheorien und andere seltsame Welterklärungen operieren. Wie gesagt, ich stehe den dynamischen Erklärungsmustern der Psychoanalyse kritisch gegenüber. Erzählen Sie einfach eine bessere Geschichte. Eine, die erklärt, warum gerade jetzt eine Impfpflicht für Kinder kommt, obwohl deren Impfquoten so hoch wie nie sind, warum der Staat beim Impfen gegen die Bürger Härte zeigt (symbolisch, die Kinder sind ja fast alle geimpft), aber Banken, Immobilienhaie oder Autokonzerne weiter gewähren lässt, oder warum ausgerechnet die Freiheitsrhetorikpartei FDP sich für die Impfpflicht stark macht. Ich bin gespannt.
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