Der Liedermacher Hans Söllner ist ein bekannter Impfgegner. Er glaubt an die Kraft der Lieder und an die Kraft dessen, was er geraucht hat, aber nicht an den Nutzen von Impfungen. Spahns Impfpflicht kommentierte er letzte Woche auf Facebook allen Ernstes mit dem Satz „Willkommen im 4. Reich“. Söllner sollte sich einmal mit den Medizinverbrechen im Nationalsozialismus beschäftigen, dann würde er vielleicht auf solche geschmacklosen Sprüche verzichten.
Sein Facebook-Post bekam trotzdem hunderte zustimmender Kommentare. Darunter auch solche mit Evidenzbetrachtungen auf gehobenem Promille-Niveau. „Mi Ma“ stellt beispielsweise fest, in Bayern habe es 2017 58 Masernfälle gegeben. Das stimmt. Eine „aktuellere differenzierte Statistik“ habe er oder sie nicht gefunden. Aktuellere und differenziertere Statistiken sind zum Beispiel bei meinem Brötchengeber abrufbar, dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Demnach gab es im Jahr 2018 in Bayern 108 gemeldete Masernfälle. Zahlen für die ersten Monate 2019 gibt es auch schon. Wer es ganz aktuell will, muss sich durch die allerdings ziemlich nutzerunfreundliche RKI-Datenbank survstat klicken. Dort kann man sich die Masernfälle auch nach Geschlecht und Alter oder auf Kreisebene zusammenstellen. Dass die Meldedaten die reale Zahl der Masernfälle erheblich unterschätzen, sei nur am Rande angemerkt.
„Mi Ma“ bewertet dann die 58 Fälle epidemiologisch: „58 Masernfälle auf 13.000.000 Einwohner in Bayern (…) sind wesentlich weniger als ein Prozent“. Das stimmt. Ein Prozent wären 130.000 Fälle gewesen, ein Promille 13.000 Fälle. Ganz mutig geschätzt könnte man also sogar sagen, die 58 waren wesentlich weniger als ein Promille. 0,004 Promille, um genau zu sein.
Das wirft bei „Mi Ma“ die Frage auf, „wieso es diese Diskussion gibt“. In der Tat. Die Zahlen sprechen schließlich überzeugend für die Wirksamkeit der Masernimpfung. Früher wurde praktisch jedes Kind infiziert, in Deutschland hunderttausende jährlich. Dementsprechend viele Menschen starben daran, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jährlich mehr als tausend. Im Deutschen Reich gab es 1924 bis 1938 fast 37.000 Masernsterbefälle, in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik 1950 bis 1970 trotz aller medizinischen Fortschritte immer noch fast 4.000.
Aber ich fürchte, das war nicht die Frage, die sich bei „Mi Ma“ aufgeworfen hat. Da hat es wohl nur bis zur Frage gereicht, ob man sich um die Masern wirklich so viel Gedanken machen muss. Die Logik vermiedener Fälle ist nicht immer ganz einsichtig.
Dem Gesamtfazit von „Mi Ma“ kann man dagegen wieder gut folgen: „Jetzt setze ich mir meinen Aluhut freiwillig auf und trage ihn mit Stolz, wenn er ein Zeichen dafür ist, zu hinterfragen“ (Rechtschreibung im Zitat korrigiert, JK). Aus der Logik wissen wir, dass selbstreferentielle Sätze leicht zu Paradoxien führen, aber damit sollte man Leute wie „Mi Ma“ nicht auch noch überfordern.
Kommentare (10)