Bei der “Achse des Guten”, der Seite mit dem Klagelaut in der URL, gibt der amerikanische Zeitgeist-Psychologe Jordan Peterson regelmäßig seine kulturpessimistischen Ansichten zum Besten. Diesmal war es Einsamkeit im Alter. Petersons einfache Formel: Je mehr ältere Menschen es gibt und je mehr Ehepaare sich scheiden lassen, desto mehr Menschen sind im Alter einsam:
„Eine weitere Sache, die uns sehr bald bevorsteht, ist eine sehr, sehr, sehr große Anzahl älterer Leute, die allein sind. Und älter und allein sein, also ohne Familie, ist etwas, das ich keinem wünschen würde. Vor allem, wenn man sich überlegt, dass man 40 Jahre lang alt ist. Denn, wenn man davon ausgeht, dass man ab 65 zu den Älteren gehört, dann ist es nicht ungewöhnlich, 95 zu werden oder sogar noch älter, vor allem nicht für Menschen, die heute jung sind. Denn jedes Jahr verlängern wir die durchschnittliche Lebenserwartung um etwa drei Monate. Das ist der Grad der technologischen Verbesserung im Verhältnis zur Gesamtmortalität. Außerdem vergrößert sich das Maß, in dem wir diese zusätzliche Lebensdauer erlangen, jedes Jahr, und es könnte so weit gehen, dass wir die durchschnittliche Lebenserwartung jedes Jahr um ein Jahr erhöhen. Dies wiederum würde ich bezweifeln, da es sich vermutlich um eine Asymptote handelt. In jedem Fall erhöht sich der Wert jedoch seit einiger Zeit.“
So einfach ist die Welt zwar nicht, Einsamkeit ist nicht nur ein Problem des Alters und Scheidungen sind auch nicht nur eine Lifestyle-Geschichte, aber darum geht es mir nicht. Auch nicht darum, dass man, wenn man ab 65 Jahren alt ist und 40 Jahre lang alt ist, nicht 95 ist, sondern 105, auch nicht darum, was wohl „der Grad der technologischen Verbesserung im Verhältnis zur Gesamtmortalität“ sein mag, sondern um seine Bemerkung zur Entwicklung der Lebenserwartung.
Peterson sagt, die durchschnittliche Lebenserwartung würde sich Jahr für Jahr um 3 Monate erhöhen. Aber da schöpft er wohl aus Kindheitserinnerungen. In den USA nimmt die Lebenserwartung nicht mehr zu, sie nimmt ab. Wir hatten hier schon darüber berichtet, daran hat sich nichts geändert.
Und in Deutschland? Dass die Lebenserwartung im langfristigen Trend erheblich zugenommen hat, bis in die Nachkriegszeit durch den starken Rückgang der Kindersterblichkeit, dann auch durch den Zugewinn an Lebensjahren im höheren Alter, war hier auch schon mehrfach Thema. Nimmt man die Lebenserwartung bei Geburt, die sog. „mittlere Lebenserwartung“, wie sie in der amtlichen Statistik ermittelt wird, so ist im Gesamtzeitraum der letzte 30 Jahre die Lebenserwartung, wie Peterson sagt, um ca. 3 Monate pro Jahr gestiegen. Aber der Zuwachs ist tendenziell schon lange rückläufig, für die letzten 10 Jahre recht eindeutig.
Der Hinweis Petersons auf eine asymptotische Funktion ist also ganz richtig, nur kommt das nicht erst in der Zukunft, das findet bereits statt. Die Gründe dafür sind bei uns andere als in den USA, wo Drogen und Suizide als Folgen sozialer Verwerfungen die Lebenserwartung der Weißen sinken lassen. Bei uns spielt vor allem eine Rolle, dass die Beseitigung großer Gesundheitsrisiken, die starke Effekte auf die Lebenserwartung hatten, weitere Gewinne an Lebenserwartung schwieriger und aufwändiger macht.
Jetzt müsste man verstärkt in den Lebensstil eingreifen, vor allem Rauchen und Alkoholkonsum weiter zurückdrängen, die soziale Ungleichheit abbauen, die Krankenhaushygiene verbessern, Medikamentennebenwirkungen reduzieren (gerade auch im Alter), noch mehr in Verkehrssicherheit investieren usw. Dabei greift möglicherweise das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens: Um noch ein Jahr Lebenserwartung mehr zu gewinnen, muss man immer mehr Ressourcen einsetzen. Aber vielleicht kommt uns das in ein paar Jahren ohnehin wie eine Luxusdiskussion vor, weil der Klimawandel dann der Lebenserwartung ganz andere Schranken auferlegt? Nicht nur in den USA hat die demografische Entwicklung Randbedingungen, die ein „Weiter-so“ auch disruptiv infrage stellen können.
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Edit: In der Grafik war zunächst auf der X-Achse nur jeder zweite Datenpunkt beschriftet, jetzt jeder Datenpunkt, vielleicht hilft das manchen Leser/innen beim Verständnis. Die Sterbetafel wird jährlich auf der Basis eines Dreijahresdurchschnitts berechnet.
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