Gesundheitsminister Spahn will, wie vermutlich allen Mitlesenden hier bekannt, eine Masernimpfpflicht einführen, um endlich dem Ziel der Masernelimination in Deutschland näherzukommen. Oder auch aus anderen Gründen. Was es mit der Masernelimination auf sich hat, will ich im Folgenden kurz beschreiben, weil ich den Eindruck habe, dass nicht immer klar ist, worum es dabei konkret geht.
Die Masernelimination ist nicht mit der Maserneradikation gleichzusetzen, aber beide Begriffe spielen in Spahns Gesetzesplänen eine Rolle. Die Maserneradikation ist die weltweite Ausrottung der Masern, analog zur Ausrottung der Pocken. Da auch die Masern keinen anderen Wirt als den Menschen haben, ist das grundsätzlich möglich. Von Elimination spricht man, wenn in einer Region die Masern weitgehend verdrängt sind. Das ist nach WHO-Kriterien dann der Fall, wenn es für mindestens 36 Monate keine endemischen Transmissionen in dem Sinne gibt, dass Transmissionsketten länger als 12 Monate anhalten. Die so operationalisierte „Masernelimination“ bedeutet also nicht, dass es in einem Land, dem die „Elimination“ attestiert wird, gar keine Masernfälle mehr gibt. Insofern wird vielleicht etwas verständlicher, warum 2017 für 37 der 53 Staaten der WHO-Region Europa die Elimination der Masern festgestellt werden konnte. Deutschland gehörte nicht dazu und 2018 war ein Wiederaufflammen der Masern in einigen europäischen Ländern zu beobachten.
Als ein Indikator dafür, ob man auf dem Weg zur Elimination Fortschritte macht, gilt, ob die Inzidenz (also die Neuerkrankungsrate) einheimischer Fälle unter 1 Fall pro einer Million Einwohner/innen fällt. Bei ca. 83 Millionen Einwohner/innen hätte es 2018 in Deutschland also nur 83 Masernfälle geben dürfen. 2018 wurden 543 Masernfälle ans RKI gemeldet. Vermutlich gab es in Wirklichkeit mehr, aber der WHO genügen zunächst die Meldefälle. Von den 543 Fällen waren 66 importiert. Die Inzidenzrate der einheimischen Fälle lag damit mit 5,8 Fällen pro 1 Million Ew. zwar deutlich niedriger als 2017 mit 10,5 pro 1 Million Ew., aber auch deutlich höher, als dass man allzuviel Hoffnung auf eine schnelle Elimination der Masern haben sollte, Impfpflicht hin oder her.
Für die Beurteilung von Transmissionsketten muss man die Genotypen der Fälle kennen. Das gelingt in Deutschland ganz gut, weil hierzulande bei Masernausbrüchen die Mehrzahl der Fälle genotypisiert wird. Für das Jahr 2016 hatte die WHO Deutschland bescheinigt, dass es keine Transmissionskette gab, die länger als 12 Monaten anhielt, aber schon 2017 war es damit wieder vorbei. Für die Genotypvariante B3 4299 konnte eine längere Transmissionskette nicht ausgeschlossen werden. 2018 geht die Nationale Verifizierungskommission zur Elimination von Masern und Röteln aber wieder davon aus, dass keine endemische Transmissionskette länger als 12 Monate anhielt. Immerhin. Die Berichte der Nationalen Verifizierungskommission sind online, wer es genauer nachlesen will.
Die Situation in Deutschland ist mit der eines Waldbrandes vergleichbar, der weitgehend gelöscht ist, aber durch immer wieder aufflackernde Glutnester gefährlich bleibt. Betrachtet man die letzten 10 Jahre, so gab es im Schnitt pro Jahr 1.000 Masernfälle, mit großen Ausschlägen nach unten und oben.
Gehen wir – ganz grob – einmal davon aus, dass in der Altersgruppe unter 20 Jahren mindestens 5 % der Bevölkerung keinen ausreichenden Immunschutz haben und in der Altersgruppe von 20 bis 40 Jahren 10 %, dann wären in diesem Altersspektrum ca. 3 Millionen Menschen ohne ausreichenden Impfschutz. Den Rest der nach 1970 Geborenen oder die noch Älteren, die trotz der bis in die 1960er Jahre als „Kinderkrankheit“ allgegenwärtigen Masern nicht immun sind, können wir bei dieser Pi-mal-Daumen-Schätzung einmal außer Acht lassen. Es reicht, wenn die Annahme mit den 3 Millionen nicht ganz abwegig ist. Bei mindestens 3 Millionen suszeptiblen Personen sind 1.000 Ansteckungsfälle pro Jahr bei einer hochansteckenden Krankheit wie den Masern nicht wirklich viel. Offensichtlich findet das Virus nicht mehr ganz leicht von einem nichtimmunisierten Menschen zum andern. Wir haben so etwas wie eine Herdenteilimmunität, oder eine Teilherdenimmunität, aber noch keine Herdenimmunität. Die Übertragungswege sind für das Virus unwegsamer geworden, aber noch nicht versperrt.
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