Gefahren
Auf Gefahren reagieren wir in der Regel nicht gelassen. Vielmehr sehen wir sie als Alarmsignale, tautologisch, sonst würden wir sie nicht als „Gefahren“ titulieren. Wir stellen uns dann z.B. tot und hoffen, dass die Gefahr an uns vorübergeht, oder wir flüchten, oder greifen an, oder verdrängen die Gefahr. Die Verdrängung sieht äußerlich wie Gelassenheit aus, gehört aber eher in die Rubrik Dummheit.
Das ist sicher nicht alles, was wir im Verhaltensrepertoire haben, aber es sind gängige Reaktionen, die jeder kennt und in unterschiedlichen Situationen wohl auch schon einmal praktiziert hat. Dass es vier sind, wie Jordan Petersons vier grundlegende Ängste des Menschen, dürfen seine Fans gerne als Rache des Schicksals an meinem Blogbeitrag über seine Horoskop-Psychologie interpretieren. Wer ihnen das nicht gönnen will: Eine fünfte Verhaltensweise wäre z.B. Beten, eine altbewährte magische Tradition, um Gott zum Eingreifen zu bewegen. Wer so was glaubt, müsste natürlich auch einmal darüber nachdenken, ob Gott nicht auch für die Gefahr verantwortlich ist, warum er also jetzt eingreifen sollte. Aber ich schweife vom Thema ab.
Gegenwärtig hält das neue Corona-Virus aus China die Medien und auch einen Teil von uns in Atem. Es kommt aus einer großen Familie von Viren, die auch sonst bei uns umlaufen. Was es besonders macht: Es ist genetisch mit dem SARS-Virus verwandt, das 2002/2003 mit mehr als 8.000 Erkrankten und mehr als 800 Toten weltweit Ängste vor einer tödlichen Pandemie ausgelöst hat.
Reaktionen
Inzwischen sind mehr als 1.300 Infektionen in China mit dem neuen Corona-Virus bestätigt, mehr als 40 Menschen sind gestorben, bei täglich steigenden Zahlen. Gestern waren es noch 900 Infizierte und knapp 30 Tote. Die chinesische Regierung hat mit drakonischen Maßnahmen fast 60 Millionen Menschen unter Quarantäne gestellt, mit Straßensperren und gravierenden Einschränkungen des Bahn- und Flugverkehrs in der Region Wuhan. Dafür bekam sie sowohl den Beifall des Herrn Trump aus dem Land der unbegrenzten Freiheiten als auch das Lob der Weltgesundheitsorganisation. Seuchen waren schon immer ein Fall für die Polizei und je nach Angstpegel in der Bevölkerung könnten auch Peter Gauweilers seinerzeitige Phantasien zum Umgang mit AIDS-Erkrankten wieder Zuspruch bekommen. Ich habe meine Zweifel, ob die chinesischen Maßnahmen die Verbreitung des Virus wirklich eindämmen können, aber nicht wenigen Leuten gefällt das, als Beispiel dafür, wie man „Führung zeigt“. Die Weltgesundheitsorganisation hat darüber beraten, ob man einen weltweiten Gesundheitsnotstand ausrufen müsse und sich vorläufig dagegen entschieden. Aber das kann morgen schon anders sein, wenn man mehr über das Virus und die Erkrankung weiß.
Unsicherheit und Angst
Damit ist man auch bei einem zentralen Punkt der aktuellen Ereignisse: Was wissen wir über das Virus und die Erkrankung? Nicht sehr viel. Wir wissen nicht, woher es kam, vermutlich aus dem Tierreich, wir wissen nicht, seit wann es auf den Menschen übergesprungen ist, wir wissen nicht wirklich, wie viele Menschen in China infiziert sind, wir wissen nicht, unter welchen Bedingungen die Übertragung von Mensch zu Mensch zustande kommt und wir wissen auch nicht, ob seine tödlichen Folgen jeden treffen können oder bevorzugt Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen.
Angst macht aber offensichtlich nicht, dass wir all das nicht wissen. Das könnte ja genauso gut Anlass zu mehr Gelassenheit sein: Lassen wir mal die Wissenschaftler und die Behörden ihre Arbeit machen und sehen dann weiter. Aber so läuft es nicht. Das Virus macht vielen Menschen Angst, weil es neu, unbekannt und unsichtbar ist und daher hinter jeder Straßenecke lauern könnte. Und vor den Chinesen hatten wir auch schon immer Angst, aber das nur nebenbei.
Ob wir Angst davor haben, dass es sich schnell ausbreitet? Es ist ja schon in mehreren Ländern aufgetreten, zuletzt auch in Frankreich, also vor unserer Haustür. Also wird es früher oder später auch bei uns ankommen. Medien berichten schon von einem Verdachtsfall im niedersächsischen Peine. Hochkontagiös, also hochgradig ansteckend, sind z.B. auch die Masern, in einem weitaus höheren Maße als das neue Corona-Virus. Aber die Masern machen uns keine Angst. Wir verharmlosen sie eher als Kinderkrankheit. Gut, Jens Spahn hat sie bei der Masernimpfpflicht etwas gehypt, aber er lässt keine Städte absperren, in denen die Masern kursieren. Bei den Masern könnten wir uns außerdem noch zusätzliche Sorgen über versäumte Impfungen machen. Gegen das neue Corona-Virus gibt es noch keine Impfung.
Ob wir Angst davor haben, dass das Virus viele Todesopfer in der Bevölkerung verursacht, also mit einer hohen Mortalität einhergeht, und dass es uns nicht gelingt, es effektiv einzudämmen? So wie weltweit z.B. die Tuberkulose, die Masern oder – auch bei uns immer wieder – die Influenza? Dann hätten wir berechtigte Sorge. Seit sich das neue Corona-Virus ausbreitet, hat die Influenza bei uns wohl schon eine ganze Reihe von Menschen getötet, unauffällig, ältere Menschen mit Vorerkrankungen. Wir wissen es nicht und den meisten von uns ist es egal. Obwohl die „Zielgruppe“ des neuen Corona-Virus vermutlich der gleiche Personenkreis ist.
Ob wir Angst davor haben, dass es im Erkrankungsfall viele Todesfälle verursacht, also eine hohe Letalität hat und wie praktisch alle Viruserkrankungen nicht gut behandelbar ist? Zu Recht hat uns das bei den wiederholten Ebola-Ausbrüchen umgetrieben. Die Letalitätsrate lag da, je nach Population und den konkreten Umständen, bei bis zu 80 %. Das scheint beim neuen Corona-Virus nicht der Fall zu sein. Vielleicht liegt die Letalität in einer ähnlichen Größenordnung wie die der Influenza? Wir werden sehen.
Haben wir also Angst davor, das neue Virus könnte so sein, wie andere Infektionskrankheiten, die wir kennen und vor denen wir uns nicht weiter fürchten? Zu Recht oder zu Unrecht? Oder haben wir Angst vor dem Gespenst der Epidemiologie, dem unbekannten Unsichtbaren? Zu Recht oder zu Unrecht? Hätte die Sache mit BSE oder der Schweinegrippe nicht auch ganz anders ausgehen können, als so vergleichsweise harmlos, wie es aus heutiger Sicht kam, und wie es die mit genug hindsight bias gesegneten Leute schon immer wussten? Komischerweise ist das unbekannte Unsichtbare in anderen Fällen nicht die Quelle von Angst vor Krankheit, sondern Quelle der Hoffnung auf Heilung. Der Mensch ist schon ein seltsames Wesen.
Sicherheit und Ignoranz
Das gilt auch für sein Verhalten gegenüber Gefahren, die ihm so gemächlich begegnen, dass Zeit wäre, überlegt darauf zu reagieren. Seit mindestens 30 Jahren reden wir über den menschengemachten Klimawandel. Wäre der Klimawandel ein Virus, ein neues, unbekanntes Virus, das droht, das Ende der Welt, wie wir sie kennen, herbeizuführen, würden wir dann zu chinesischen Maßnahmen greifen? Lassen wir es mit dem Klimawandel nur deshalb so weit kommen, weil wir uns, wie der berühmte Frosch im langsam erhitzenden Wassertopf, daran gewöhnt haben und nicht herausspringen, bis es zu spät ist? Allein danach zu fragen, kann unbequem werden. Das Bewirtschaften von Ängsten ist ein Markt, der eigenen Regeln folgt.
Eins ist jedenfalls ziemlich sicher: Das neue Corona-Virus wird nicht das Ende der Welt bringen. Wir müssen wachsam sein, aber der Klimawandel sollte uns mehr Angst machen.
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Zum Weiterlesen:
• Ortwin Renn: Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Frankfurt 2014.
• Joseph Kuhn, Manfred Wildner (Hrsg.) Gesundheitsdaten verstehen. 2. Aufl., Bern 2019.
• Das RKI zum neuen Corona-Virus: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html
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