Im aktuellen SPIEGEL 12/2020, der fast ganz der Coronakrise gewidmet ist, gibt es einen Kommentar von Ullrich Fichtner, der richtig ärgerlich ist. Fichtner wirft den Regierungen in Europa vor, sie hätten “ihre Pflicht nicht erfüllt”. Seit Silvester, als “erste kleine Nachrichten zu uns gelangten”, sei es nur noch um Mathematik gegangen. “Wer, wenn nicht sie, hätte die Gefahr erkennen müssen, die in den spröden Meldungen aus China von Beginn an lag?” Die Regierungen hätten “alles Menschenmögliche unternehmen müssen.” Stattdessen seien sie “bis zuletzt unfähig zu entschlossener Aktion”.

Nicht, dass Kritik an Versäumnissen der Regierungen illegitim wäre. Dann soll man sie eben benennen. Aber solche Nörgel-Kommentare gehen mir empfindlich auf die Nerven. Natürlich sagt Fichtner mit keinem Wort, was konkret wann versäumt wurde. Hätte er etwa Anfang Januar schon die Schulen schließen wollen? Oder die Grenze zu Italien sperren? Von den Fragezeichen abgesehen, welche Maßnahmen seinen Wunsch nach „allem Menschenmöglichen“ überhaupt erfüllen könnten, kommt darin eine unrealistische Erwartung an eine perfekte, fehlerfreie, quasi mit göttlichem Vorhersehen ausgestattete Regierung zum Ausdruck. Kinder projizieren solche Erwartungen auf ihre Eltern, und manche Erwachsene auf einen Vaterersatz in der Politik.

Aus dem Munde Fichtners sind solche wohlfeilen Besserwissereien auch deswegen so ärgerlich, weil er in der Causa Relotius sein jetzt so demonstrativ zur Schau gestelltes präventives Talent gänzlich vermissen ließ. Auch da war er, als der Schwindel dann aufflog, lieber als Besserwisser unterwegs. Vielleicht sollte die SPIEGEL-Redaktion mal ein paar Wochen Pause machen. Es wäre gut, nicht nur die Verbreitung von Viren, sondern auch die von dummen Kommentaren einzuschränken.

Kommentare (6)

  1. #1 DH
    14. März 2020

    Der Virus zeigt auf, wie gefährlich es auf Dauer ist, wenn im medialen Establishment zuviele rumlaufen, die nicht über den geringsten Rest an Krisenfestigkeit verfügen (und die nicht selten gerade deshalb so weit gekommen sind), obwohl die “Stellenbeschreibung” eigentlich das Gegenteil erfordert.
    Fichtner mag ein Extremfall sein, aber er ist eben auch die Spitze eines Eisbergs.
    Ausdrücklich nicht gemeint sind damit diejenigen, die aktuell einen seriösen Job machen wie die meisten medizinischen Fachleute, die sich aktuell äußern, (RKI u.a.), und auch erhebliche Teile der Medien, die bei solchen Themen noch ordentlich funktionieren, obwohl sie bei anderen weitgehend versagen.

  2. #2 RainerO
    15. März 2020

    Es wird immer und überall die Oberschlauen geben,die es im Nachhinein schon viel früher besser gewusst haben. Diese Trottel sterben nicht aus. Ärgerlich ist das nur, wenn solche Pfosten das in einer auflagenstarken Zeitschrift verbreiten dürfen.
    Ich will ganz besonders in solchen Zeiten (sonst aber auch nicht) kein Politiker in Entscheidungsposition sein. Egal, was unternommen wird: Die Fichtners dieser Welt werden dir daraus einen Strick drehen.

  3. #3 Basilios
    Galaxy Angel I
    15. März 2020

    Joseph, Du sprichst mir komplett aus der Seele.

  4. #4 TobiasK
    Berlin
    15. März 2020

    Ich habe mir heute die aktuelle Ausgabe des Spiegels zu Gemüte ziehen wollen, habe es mir dann aber irgendwann geschenkt. Ich kann Ihre Kritik nur teilen, die gesamte Ausgabe ist leider von diesem triefenden Besserwissertum durchzogen, alles durchsetzt mit so einem Hauch Hysterie, welche durch pseudo-philosophischen Fragen über das “Was-Könnte” und das “Was-Wäre” angefeuert wird. Beim Spiegel arbeitet man ja nicht so platt wie bei der Bild, aber eben doch mit den gleichen Mechanismen.

  5. #5 Obert
    15. März 2020

    Sie fragen was man hätte tun können? Als erstes auf alle überflüssige Auslandsreisen verzichten würde ich vorschlagen. Komisch die Schulen werden hiet mindestens bis Odtern geschlossen. Abet dir Flughäfen sind weiter offen. Die Passagiere aus gewissen Ländern werden gebeten zwei Wochen sich privat unteter Quaranäne zu begeben, könnte man auch Hausarrest nennen. Aber alles erfolgt freiwillig niemand kontroliert das. Auch werden auf dem Flughafen bis heute keine Virustests gemacht.

  6. […] auch alles gewusst hätten, wenn es ganz anders gekommen wäre. Das sind die entwicklungsflexiblen Hindsight-Experten, sozusagen das Pendant zum anpassungsfähigen Politiker, oder den jeweils weiblichen […]