Nicht nur das Klopapier ist knapp, oder, weniger zynisch, die wirklich wichtigen Atemmasken und Schutzkleidungen in den Kliniken fehlen. Was man schon aus Italien mit Entsetzen vernommen hat, hört man jetzt auch aus dem Elsass. Wie Norditalien doch ein Wohlfühl-Paradies, wo man entspannt Museen anschaut, gut isst und guten Wein trinkt. Medien melden gerade, dass ältere Menschen im Elsass nicht mehr beatmet werden, es ist von den Über-80-Jährigen die Rede, in manchen Kliniken von Über-75-Jährigen. In dem Alter sind Menschen in meinen unmittelbaren Verwandten- und Bekanntenkreis.
Dass man bei einem 95-Jährigen nachdenkt, welche intensivmedizinische Maßnahme noch sinnvoll ist, mag angehen. In dem Alter ist auch die Hüft-OP oder die Chemotherapie fragwürdig. Aber mit 75? Dass es dazu im reichen Europa kommen konnte – ein Menetekel. Europa war moralisch schon beim Umgang mit den ertrinkenden Flüchtlingen im Mittelmeer oder beim weitgehend tatenlosen Ermahnen zum Frieden in Syrien am Limit, jetzt ist es wieder am moralischen Limit, an einer ganz anderen Stelle, mit ganz anderen Auswirkungen auf die wahren Werte des Westens, das Geld.
Hunderte Milliarden Euro, vielleicht Billionen, werden gerade ausgegeben, um das ökonomische Überleben Europas zu sichern, von den Kliniken über die Autofirmen und die kleinen Buchläden bis zu den Putzfirmen. Zu Recht: Das ist der Preis, den wir für „flattening the curve“ derzeit zahlen müssen. Sonst kann man die Über-75-Jährigen gleich ganz als „Ballastexistenzen“ abschreiben. Aber dass es angesichts all des vielen Geldes, das jetzt mobilisiert wird, nicht gelungen ist, Situationen wie jetzt im Elsass zu vermeiden, dass im reichen Europa „Best-Ager“, wie sie bis vor kurzem genannt wurden, sterben müssen, weil es an käuflichen Ressourcen fehlt, das müsste uns allen den Atem stocken lassen.
Manche schreiben jetzt, der Föderalismus habe versagt, weil die Länder nicht alle im Stechschritt gegen Corona marschieren, mag sein. Manche meinen, die Politik insgesamt habe den richtigen Zeitpunkt zum konsequenten Einschreiten verpasst, oder gar verschlafen, mag sein. Manche prangern im Gegenteil an, die Politik würde das Augenmaß im Kampf gegen das Virus verlieren und die eingesetzten Mittel seien am Ende schlimmer als die Krankheit selbst, mag sein. Viele dieser mahnenden Stimmen werden ihre zweite Chance bekommen, wenn alles vorbei ist, wie Lottospieler, von denen jeden Samstag manche Recht behalten. Gute Gründe für alternatives Handeln liest man selten, auch, weil uns dazu feinauflösende Modellierungen des epidemischen Verlaufs fehlen.
Jenseits aller Ungewissheiten darüber, was man jetzt tun müsste, jenseits allen Entsetzens darüber, was Ärzte in Italien und Frankreich jetzt, demnächst vielleicht in Spanien, den USA oder Großbritannien oder auch in Deutschland entscheiden müssen: Wenn diese Krise vorüber ist, sollten wir nicht nur darüber nachdenken, wie wir die Staatschulden zurückzahlen und die Produktion von Autos und Ego-Shootern wieder ankurbeln, sondern auch darüber, wie wir solche Situationen bei der nächsten Pandemie bestmöglich vermeiden und wie wir in der Zeit bis dahin miteinander umgehen wollen, was wichtig ist, wie eine „menschliche“ Gesellschaft aussehen soll.
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Als Alert zum Schluss: Worldometers weist gerade aus, dass die USA bei den Fällen China überholt haben und Italien so viele Fälle wie China verzeichnet – und mehr Tote. Wir werden in den nächsten Tagen vermutlich furchtbare Bilder aus vielen Ländern sehen.
Auch in Deutschland bereiten sich die Ärzte auf Rationierungsentscheidungen vor. Die Empfehlungen der Notfall- und Intensivmediziner (“Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie”) sehen dabei ausdrücklich vor, dass das Alter alleine kein Entscheidungskriterium sein soll.
Edit 27.3.2020: Ich schrieb versehentlich in der ersten Version, Spanien habe jetzt so viel Fälle wie China, es ist Italien. Bei Spanien dauert es noch ein paar Tage.
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