Die Basisreproduktionszahl Ro ist einer der wichtigsten Parameter, die in die Modelle der Epidemiologen zur Vorhersage der Epidemie und zu den nötigen Gegenmaßnahmen eingehen. Sie ist inzwischen vermutlich so bekannt wie Dieter Bohlen und bezeichnet die durchschnittliche Anzahl an Menschen in einer Population ohne Immunität, die von einer infizierten Person während der Zeit ihrer Infektiosität angesteckt wird.
Wem das zu einfach ist, man kann die Basisreproduktionszahl auch anders erklären: „Die Basisreproduktionszahl ist ein auf den kritischen Wert Eins normierter Bifurkationsparameter. Sie kann als Perron-Eigenwert eines Generations-Operators gedeutet werden.“ Was das bedeutet, weiß ich leider auch nicht. Die folgenden Erläuterungen sind also die eines einfachen Datenhandwerkers, nicht etwa die eines Biomathematikers.
Die Basisreproduktionszahl hängt nicht allein von den Eigenschaften eines Erregers ab, sondern von verschiedenen biologischen und sozialen Gegebenheiten, z.B. der Ansteckungsfähigkeit des Erregers, dem Übertragungsmechanismus, der Anfälligkeit exponierter Menschen, der Dauer der Ansteckungsfähigkeit infizierter Menschen oder der sozialen Kontaktdichte – letzteres ein Ansatzpunkt der „nichtpharmazeutischen Maßnahmen”, die wir gerade erleben.
Je nachdem, welche Informationen es zu einem Ausbruchsgeschehen gibt, gibt es unterschiedliche Verfahren, die Basisreproduktionszahl abzuschätzen, einfachere und anspruchsvollere. Das RKI gibt die Basisreproduktionszahl von Sars-Cov-2 zurzeit mit einer Spanne von 2,4 bis 3,3 an. Das ist in etwa das Niveau der Spanischen Grippe 1918. Zum Vergleich: Die Basisreproduktionszahl von Erkrankungen wie den Pocken oder Polio wird meist mit 5 – 6 angegeben, die der Masern mit 15 – 18. Sehr viel größer ist interessanterweise die der Malaria, in der Literatur liest man Werte von deutlich über 100. Dabei ist die Malaria bis auf ein paar spezifische Ausnahmen gar nicht direkt von Mensch zu Mensch übertragbar, sondern eine „vektorübertragene“ Infektion, d.h. eine von einem anderen Lebewesen zwischen den Menschen übertragene Infektion. Bei der Malaria ist der Vektor bekanntlich eine Mücke – der hohen Basisreproduktionszahl nach eine sehr fleißige Mücke.
Die Rolle der Basisreproduktionszahl für die Dynamik einer Epidemie erkennt man daran, dass sie den Faktor darstellt, mit dem sich zu Beginn der Epidemie die Zahl der Infizierten mit jeder „Generation“ an Neuinfektionen vervielfacht. Bei Sars-Cov-2 hat sich die Zahl der Infizierten also jeweils verdreifacht.
Bei Infektionen, die zur Immunität führen, nimmt mit Fortschreiten der Epidemie die durchschnittliche Zahl der Menschen, die ein Infizierter anstecken kann, auch ohne Gegenmaßnahmen ab. Das Infektionsgeschehen wird dann nicht mehr von der Basisreproduktionszahl bestimmt, sondern von der aktuellen effektiven Reproduktionszahl. Sie berechnet sich aus der Basisreproduktionszahl multipliziert mit dem Anteil der noch nicht Infizierten. Sinkt die effektive Reproduktionszahl unter 1, läuft sich die Epidemie tot. Wenn die effektive Reproduktionszahl nur durch die Verminderung der Kontaktdichte, z.B. durch Ausgangsbeschränkungen, abgesenkt wurde, also keine Immunität in der Bevölkerung entstanden ist, kann mit dem Ende der Maßnahmen die Epidemie auch wieder aufflammen, z.B. durch kleine endemische Infektionscluster oder eingeschleppte Fälle.
Sofern die effektive Reproduktionszahl durch Immunisierung unter 1 gesunken ist, entsteht Herdenimmunität. Welcher Anteil der Bevölkerung für die Herdenimmunität immunisiert sein muss, lässt sich unmittelbar aus der Basisreproduktionszahl ableiten: ein Anteil von 1 – 1/Ro. Nehmen wir für Sars-Cov-2 der Einfachheit halber an, Ro betrage 3, dann müssen 2/3 der Bevölkerung immun geworden sein, damit sich Sars-Cov-2 nicht mehr weiter ausbreitet. Mit dieser Zahl hat der Virologe Christian Drosten vor einigen Tagen die Republik geschockt, weil das kombiniert mit der Letalität eine sehr hohe Zahl an Sterbefällen erwarten lässt, bei einer vermuteten Letalität von 0,5 % ca. 270.000 Tote in Deutschland. Vorausgesetzt, man unternimmt nichts. Daher unternehmen wir nicht nichts.
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Zum Weiterlesen:
• Robert Koch-Institut: Infektionsschutz und Infektionsepidemiologie. Fachwörter – Definitionen – Interpretationen. Berlin 2015.
• Razum O et al.: Epidemiologie für Dummies. Weinheim, 3. Aufl. 2017.
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