Hier auf den Scienceblogs und andernorts war über viele Jahre regelmäßig ein händeringendes Bittgebet zu vernehmen: Die Politik möge doch mehr auf die Wissenschaft hören. Ob es um die gesundheitlichen Folgen des Rauchens ging, die Dieseldebatte oder den Klimawandel: Wissenschaftliche Daten zu Gesundheitsgefahren mit tausenden oder hunderttausenden Toten schienen lange Zeit in der Politik auf taube Ohren zu stoßen.
In der Coronakrise war das anders. Mag sein, dass die Politik in manchen Ländern zu spät, in manchen dann zu rabiat und vielfach sicher oft nicht in wünschenswertem Maße zielgenau reagiert hat, aber abgesehen von den Naturtalenten und ihren Spießgesellen hat sie die Warnungen der Epidemiologen und Virologen in einem Maße ernst genommen, das man sich vorher einfach nicht hätte vorstellen können. Auch in Deutschland.
Bei uns wurde die Seuchenbekämpfungspolitik dabei frühzeitig von mahnenden Stimmen begleitet, getragen beispielsweise von juristischen Bedenken mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Maßnahmen, oder die Belastbarkeit der Datenlage hinterfragend, manchmal aus der Grauzone von Nachdenklichkeit und Gedankenlosigkeit, zuweilen war die Kritik querulatorischer und wirrer Natur, mitunter auch einfach nur böswillig desinformativ.
Mein persönliches Zwischenfazit: Es war gut, entschieden zu handeln, auch um den Preis, dass dabei Fehler gemacht wurden oder Tatkraft und Profilierungsdrang nicht immer zu unterscheiden waren. Nichtstun wäre ganz sicher keine Alternative gewesen.
Wie gesagt, es gab und gibt kritische Stimmen, aber die Dynamik der Entwicklung hat das deliberative Element unserer Gesellschaft erst einmal überrollt. Inzwischen wird das Nachdenken darüber, was da mit uns geschehen ist und wie es weiter gehen soll, intensiver. Zu Recht. So überlegt man gerade, Exitstrategien aus dem Shutdown so zu organisieren, dass die Wirtschaft und die Schulen langsam wieder anlaufen, vielleicht regional differenziert, und die vulnerablen Gruppen weiter abgeschottet bleiben sollen, um sie zu schützen.
Aber wer hat eine gute Antwort, wie man diese oder andere Optionen konkret umsetzen soll? Ich behaupte: Im Augenblick niemand. Man kann beispielsweise nicht die alten und kranken Menschen ein oder zwei Jahre auf soziale Kontakte hinter der Fensterscheibe beschränken, in Pflegeheimen dauerhaft Infektionsstationen mit Schleusen und eigenem Personal unterhalten oder infizierte Demenzkranke aus ihren vertrauten Zimmern entfernen oder darin festhalten. Diese Medizin wäre vielleicht schlimmer als die Krankheit. Und vielleicht wollen viele der besonders gefährdeten Menschen gar nicht auf diese Weise geschützt werden? Vielleicht wollen sie lieber mit ihren Bekannten, Freunden und Verwandten in der Sonne spazieren gehen, oder im Biergarten sitzen, trotz des damit verbundenen Risikos? Wer soll für sie abwägen, ob sie lieber gut geschützt sein oder soziale Kontakte haben wollen? Ich kann das nicht. Können es Virologen und Epidemiologen? Stellvertretungs-Ethiker? Ministerialbeamte? Landräte? Heimverwalter?
Das Nachdenken über die Zukunft muss wissenschaftlich informiert sein, es darf sich aber nicht auf eine expertokratische Politik beschränken, die den Menschen jegliche Selbstbestimmung über ihr Leben fürsorglich aus der Hand nimmt. Es gilt, die Betroffenen, also letztlich uns alle, einzubeziehen, wenn es darum geht, was jetzt folgen soll, und einen demokratischen – natürlich fachlich gut unterstützten – Diskurs zur Frage „wie weiter“ zu initiieren. Das ist zumindest die Position des Deutschen Ethikrats:
„Die aktuell zu klärenden Fragen berühren die gesamte Gesellschaft; sie dürfen nicht an einzelne Personen oder Institutionen delegiert werden. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik.“
Das wäre auch meine Position. Und wie sehen das die Scienceblogs-Leser/innen?
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