Irgendwie gehört es zu den beliebten Erzählungen unserer Zeit, dass man dies oder das nicht sagen dürfe und wer es doch wage, würde sofort mundtot gemacht. Nicht, dass es keine politischen Tabus gäbe. Dass das Gesundheitswesen bis in die letzte Ecke als Markt zu organisieren sei und jeder Hauch von “Staatsmedizin” des Teufels wäre, war so eins. Aber dass man über die Seuchenbekämpfungspolitik in Deutschland nicht offen reden dürfe, ist nur ein Verkaufsargument von Verschwörungstheorie-Dealern, um ihre intellektuellen Ladenhüter als besonders wertvoll anzupreisen.
Die folgenden, zum Nachdenken anregenden, aber nicht verschwörungstheoretisch raunenden Überlegungen mögen die Breite der Debatte etwas veranschaulichen, es ist eine Auswahl und man findet unschwer mehr:
1. Schon ein paar Tage her ist die hier auf Gesundheits-Check auch schon erwähnte Stellungnahme des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin. Darin wird auf gravierende Datenlücken und Unsicherheiten in den gängigen Annahmen hingewiesen und auch die oft unqualifizierte Risikokommunikation kritisiert. Das Fazit lautet aber nicht, dass die Politik mit ihren „NPIs“, den nichtpharmazeutischen Maßnahmen, daher völlig unangemessen und hysterisch agiert, sondern:
„Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz – weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs – trotz weitgehend fehlender Evidenz – das einzige sind, was getan werden kann, wenn man nicht einfach nur zusehen und hoffen will. Selbst wenn man von der günstigsten Annahme ausgeht, dass die CFR letztendlich deutlich unter 1% zu liegen kommt (… ), so ist dennoch aufgrund der raschen Ausbreitung der Erkrankung mit einer hohen Anzahl von Toten zu rechnen. NPIs erscheinen unter Abwägen der Pro und Contra-Argumente derzeit sinnvoll, aber sie sollten nicht ohne akribische Begleitforschung durchgeführt werden. Hierfür ist es erforderlich jetzt neben der ohne Zweifel erforderlichen virologischen Grundlagenforschung umgehend Kohorten und Register aufzubauen (…). Unter anderem ist es sinnvoll, Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung auf SARS-CoV-2 zu untersuchen, um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen.“
2. Natürlich darf man auch zur Einschätzung kommen, dass die Politik nicht alles richtig macht, dass insbesondere der hemdsärmlige Umgang mit den Grundrechten zu wünschen übrig lässt und man z.B. nicht mit „Hindenburg-Klauseln“ (Kingreen) die Rechtsstaatlichkeit aushebeln darf. Juristische Kritik ist vielstimmig auf dem „Verfassungsblog“ nachzulesen, der hier ebenfalls schon mehrfach verlinkt wurde.
3. Die Zwillingsschwester des Rechts ist die Ethik. Ethische Probleme des Umgangs mit Sars-Cov-2 und Covid-19 werden ausführlich in den diversen Materialien abgewogen, die bei der Akademie für Ethik in der Medizin gesammelt werden. Man findet dort neben konkreten Handlungsempfehlungen, etwa in der Notfall- und Intensivmedizin, auch ethische Grundsatzpapiere, u.a. vom Deutschen Ethikrat.
4. Verschiedene Dimensionen – epidemiologische, versorgungspolitische, wirtschaftliche, juristische, ethische – wägt ein interdisziplinär verfasstes Papier ab, das vor kurzem Clemens Fuest vom Münchner ifo-Institut und Ansgar Lohse vom UKE Eppendorf koordiniert haben. Das Papier “Die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie tragfähig gestalten“ thematisiert insbesondere auch die Kosten der Seuchenbekämpfungspolitik.
5. Ganz neu ist das Papier „Datenbasis verbessern, Prävention gezielt weiterentwickeln, Bürgerrechte wahren“ einer kleinen Autorengruppe aus Wissenschaft und Versorgung. Das kurze und prägnante Papier mahnt ein Überdenken des notgedrungen sehr schnellen und von vielen vorläufigen Einschätzungen getragenen Handelns an:
“Entstehung und Bekämpfung einer Pandemie sind in gesellschaftliche Prozesse eingebettet. Die derzeitig angewandte allgemeine Präventionsstrategie (partieller shutdown) kann anfangs in einer unübersichtlichen Situation das richtige Mittel gewesen sein, birgt aber die Gefahr, die soziale Ungleichheit und andere Konflikte zu verstärken. Es besteht weiterhin das Risiko eines Konfliktes mit den normativen und juristischen Grundlagen der Gesellschaft. Demokratische Grundsätze dürfen nicht gegen Gesundheit und Bürgerrechte ausgespielt werden. Die Einbeziehung von Experten aus Wissenschaft und Praxis muss in einer Breite erfolgen, die einer solchen Entwicklung entgegenwirkt.”
Ich will nicht auf die einzelnen Positionierungen und Argumente eingehen, die man in den genannten Quellen findet. Wer hier liest, ist auch des Lesens dort mächtig. Es geht mir nur darum, der eingangs angeführten „Tabu-These“ ein paar ganz konkrete Gegenbeispiele entgegenzuhalten.
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