In der Finanzkrise vor gut 10 Jahren wurde der Begriff „systemrelevant“ populär. Systemrelevant waren damals die Banken, nicht die Menschen.
Heute ist die Systemrelevanz zumindest terminologisch anders adressiert. Ärzte/innen und Pflegekräfte werden jetzt so ausgezeichnet, manchmal auch die Supermarktverkäufer/innen. So richtig es ist, diese Gruppen anerkennend hervorzuheben, man wird das ungute Gefühl nicht los, dass es sich nur um ein opportunes Lippenbekenntnis handelt, eine Augenblickspflicht der politischen Rhetorik. Man wird sehen, wie sich die Systemrelevanz nach der Krise materiell äußert.
Ich würde aber vorerst schon einmal die Liste etwas erweitern wollen, z.B. um die
• Putzfrauen und das Küchenpersonal in den Krankenhäusern und Pflegeheimen,
• die meist weiblichen pflegenden Angehörigen,
• die an vielen Stellen aushelfenden Medizinstudierenden und alle anderen “Coronafreiwilligen”,
• die LKW-Fahrer/innen, die nicht nur das jetzt knappe Klopapier transportieren, sondern auch Nudeln, Brot und Obst,
• die Polizist/innen, die unter erschwerten Bedingungen ihrem Job nachgehen, nicht immer ausgestattet mit der nötigen Schutzausrüstung,
• die Feuerwehrleute, Rettungsdienstleute und Beschäftigte in ähnlichen Berufen, die dafür sorgen, dass das Rettungswesen weiter funktioniert,
• die Postbot/innen, die uns mit den Dingen versorgen, die wir jetzt online bestellen, weil viele Geschäfte geschlossen sind,
• die Maschinenbauer, die z.B. Beatmungsgeräte bauen, die so dringend benötigt werden, oder die Maschinen, mit denen diese Geräte gebaut werden,
• die Metaller, die für diese Maschinen Bleche biegen und Schrauben herstellen,
• die Hafenarbeiter, die für das Eisen für die Bleche das Erz und die Kohle aus Südafrika entladen,
• die Buchhalter/innen, die die Geschäfte mit Erz und Kohle abrechnen,
• die Straßendienste, die die Straßen fit halten, damit die Krankenwagen schnell ins Krankenhaus kommen, oder das Klopapier zu uns,
• die Automobilbeschäftigen, ohne die es keine Krankenwagen gäbe,
• die fachfremden Beamten aus irgendwelchen Behörden, die jetzt in den Gesundheitsämtern, die man jahrzehntelang kaputtgespart hat, aushelfen,
• die Erzieher/innen, die Kinder der anderen systemrelevanten Berufe notbetreuen und nach der Krise möglicherweise noch mehr verhaltensauffällige Kinder in ihren Gruppen haben,
• die Lehrer/innen, die sich tolle digitale Unterrichtsprojekte ausdenken, damit die Kinder zuhause nicht ganz den Anschluss verlieren, bis die Schule wieder losgeht,
• die Beschäftigten der Energiewirtschaft, die dafür sorgen, dass der Kühlschrank auch in der Krise läuft,
• das Personal der Internetbranche, damit wir in Corona-Blogs diskutieren können,
• die Leute von der Müllabfuhr, die unseren Müll auch in der Corona-Zeit zuverlässig abholen,
• die Wissenschaftler/innen, die sich bemühen, die Eigenschaften des neuen Coronavirus zu erforschen oder epidemiologische Modelle rechnen,
• die Laborant/innen in den Testlabors und andernorts, die sich um die Proben kümmern,
• die netten Nachbarn, für ihre Bekannten oder für Wildfremde einkaufen, die zuhause bleiben müssen,
• die Bestatter/innen und Beschäftigten der Friedhofsverwaltungen, deren Job jetzt noch trauriger geworden ist,
• die Psychotherapeut/innen und Sozialarbeiter/innen, die nach der Krise mithelfen müssen, die seelischen Verwüstungen der Krise zu reparieren, neben all dem „normalen“ Leid,
• die Jurist/innen, die hoffentlich dafür sorgen, dass das krisenbedingte Ausnahmerecht wieder zurückgefahren wird und demokratische Spielregeln wieder zu ihrem Recht kommen,
• die Bäcker/innen, Metzger/innen, Landwirt/innen und alle anderen, die dafür sorgen, dass wir kein Klopapier essen müssen,
• die Journalist/innen, die sich bemühen, uns mit guten Informationen auf dem Laufenden zu halten und der Flut der Desinformationen etwas entgegenzusetzen,
• dem Flugpersonal, das dafür sorgt, dass deutsche Urlauber/innen und chinesische Schutzmasken nach Deutschland kommen,
• den Blumenhändler/innen, denen wir es zu verdanken haben, dass wenigstens in der Blumenvase ein wenig Frühlingsnormalität herrscht,
• und all den anderen, die den Laden mit am Laufen halten.
In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind viele Berufe systemrelevant, die mächtigen Finanzmarktspekulanten vielleicht gar nicht so sehr, zumindest nicht für das lebensdienliche System. Auch daran sollte sich die Politik später erinnern. Politiker/innen sind natürlich selbst auch systemrelevant, in der Krise ganz besonders – und auch danach, sicher da und dort mit Luft nach oben, wenn man an so manche Politposse der letzten Monate zurückdenkt.
Kommentare (36)