Im aktuellen Spiegel 17/2020 ist neben typischem Edelfederngeschwurbel zu Corona auch ein Interview mit dem Epidemiologen Gabriel Leung aus Honkong. Deutsche Epidemiolog/innen hätten zwar das Gleiche sagen können, besondere Weisheiten hat Herr Leung nicht zu verkünden, aber vielleicht dachte der Spiegel, deutsche Epidemiolog/innen würden provinziell wirken und provinziell ist schließlich schon das erwähnte Edelfederngeschwurbel.
Interessant am Interview mit Leung, und das hätte man so unverblümt aus deutschem Munde eher nicht gehört, sind dessen klare Äußerungen dazu, dass die Gesellschaft auch bei Corona Entscheidungen treffen wird, wie viele Tote akzeptabel sind:
„Die Bevölkerung wird sich dazu äußern, sie wird den Politikern mitteilen, wo ihre Toleranzgrenzen liegen. Diese werden unterschiedlich sein von Land zu Land.“
Es wird eine indirekte Botschaft sein, die sich in Forderungen nach dem Wiederanfahren der Wirtschaft und des sozialen Lebens äußern wird, oder in der Bereitschaft, sich an Hygieneregeln und später einmal an Impfaufforderungen zu halten. Dass man die Bevölkerung in einer Abstimmung explizit fragt, wie viele Toten sind akzeptabel, 20.000 oder 70.000 oder 150.000, ist schließlich nicht anzunehmen. Diese Frage verletzt offensichtlich unser ethisches Schamgefühl. Nicht nur bei den Flüchtlingen oder beim Tabak schaut man beim Sterben lieber weg.
Leung wird etwas konkreter, was die Zahlen angeht:
„Die Influenza tötet in Europa jeder Jahr Tausende, sogar Zehntausende Menschen. Aber gibt es deswegen Ausschreitungen? Dieses Niveau an Mortalität ist für die Menschen offenbar akzeptabel. (…) Wenn eine Gesellschaft jedoch den Zusammenbruch ihrer Intensivmedizin erlebt wie derzeit in New York, dann ist eine rote Linie überschritten. Irgendwo dazwischen – der akzeptierten Mortalität durch Influenza und dem großen Sterben in New York – liegt das wahre Akzeptanzniveau der Gesellschaft.“
Dieser Passus ist zwar multipler Unsinn. In Europa gibt es auch wegen Corona bisher keine Ausschreitungen. Und warum das hingenommene Niveau an Sterbefällen zwischen den Influenzatoten und dem „großen Sterben in New York“ liegen soll, wird Leungs Geheimnis bleiben. Wir hatten bisher kein Problem damit, allein in Deutschland 120.000 vorzeitige Sterbefälle durch das Tabakrauchen hinzunehmen, jährlich, wohlgemerkt, also deutlich mehr als die saisonale Influenza dahinrafft und ohne jede Aussicht auf Immunisierung.
Aber so verfehlt Vergleiche zwischen der saisonalen Influenza und Sars-Cov-2 im Hinblick auf die epidemiologische Risikolage sind, so angebracht sind sie im Hinblick auf unsere ethischen Intuitionen zur Frage, wie viele Menschen wir bereit sind, in bestimmten Situationen und auf der Waagschale mit anderen Werten (in jedwedem Wortsinn) zu opfern. Vielleicht sind wir bei Sars-Cov-2 nicht so großzügig wie beim Rauchen, den Dieseltoten oder, weniger im öffentlichen Bewusstsein, der Kohleverstromung, weil das Virus kein Gegengewicht in Form eines Vorteils hat, der das Risiko aufwiegt, z.B. den Nikotinkick beim Rauchen oder den Mobilitätskomfort beim Autofahren?
Damit, dass die Gesellschaft, wie verdruckst und unausgesprochen auch immer, eine Entscheidung darüber treffen wird, wie viele Tote Corona kosten darf, hat Leung recht. Dass zwar jeder Corona-Tote ein konkreter Fall ist, die Gesamtzahl aber ein statistischer Effekt von Entscheidungen, die diese Gesamtzahl nicht explizit als Zielgröße formulieren, sondern sich anderen Zielen orientieren, erleichtert die Bewirtschaftung von Menschenleben. So funktionieren auch sonst viele Priorisierungsentscheidungen auf gesellschaftlicher Ebene. Demgegenüber tritt z.B. im Krankenhaus, wenn es in der Triage um das Überleben von Person A oder Person B geht, die Wirklichkeit hinter solchen Entscheidungen in ihrer ganzen Brutalität zutage.
Noch einen wichtigen Punkt spricht Leung an: Die Akzeptanzschwelle wird zwischen einzelnen Ländern unterschiedlich sein. In Ländern, in denen das Sterben durch Bürgerkriege oder Hunger Alltagserfahrung der Menschen ist, wird man den zusätzlichen Sterbefällen durch das Virus weniger Bedeutung beimessen als im sicheren Europa, in dem man sich sonst um Glyphosat im Bier sorgt oder eine Impfpflicht gegen Masern für notwendig hält. Und auch innerhalb der Länder wird mit verschiedenen Maßstäben gemessen. Schon jetzt drängt die Wirtschaft auf schnellere Lockerungen des Shutdowns, natürlich ohne zu sagen, wie viele Tote sie dafür in Kauf zu nehmen bereit wäre. Andere gesellschaftliche Gruppen sind dagegen vorsichtiger, ihre moralischen Waagschalen sind anders besetzt. Aber allen ist klar, dass der Kampf gegen das Virus nicht jeden Preis wert ist. Für die Public Health-Ethik bietet die Coronakrise noch einige Herausforderungen.
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