Vor ein paar Tagen hatte ich hier die Basisreproduktionszahl R(o) erläutert, also den Wert, der die Ausbreitungsdynamik eines Erregers wie SARS-CoV-2 in einer Population ohne Immunität und ohne Seuchenbekämpfung beschreibt. Der Wert, der die Ausbreitungsdynamik gegenwärtig beschreibt, also mit den getroffenen Maßnahmen, heißt effektive Reproduktionszahl R(t).
Statistiker berechnen R(t) nach unterschiedlichen Methoden, um die Details zu erklären, fehlt mir das statistische Know How, aber sie sind hier auch nicht von Belang. Ich will hier nur zwei solcher Berechnungen für R(t) zeigen, eine vom RKI für Deutschland, eine von der LMU München für Bayern. Beiden gemeinsam ist, dass R(t) etwa um den 20. März herum unter den wichtigen Schwellenwert 1 gesunken zu sein scheint. Unter 1 bedeutet, dass die Neuerkrankungszahlen nicht mehr zunehmen. Ganz sicher kann man sich nicht sein, weil sich die Ausbreitungsdynamik des Virus nicht direkt beobachten lässt, sondern aus den Meldedaten abgeleitet werden muss. Den Zeitverzug zwischen Erkrankung und Meldung berücksichtigen beide Modelle in sog. Nowcast-Verfahren.
Für Deutschland hat das Robert Koch-Institut heute in einer Pressekonferenz R(t) mit 0,9 angegeben. Vor ein paar Tagen hatte das RKI auch einen Trend für R(t) über einen Zeitraum von vier Wochen veröffentlicht:
Für Bayern hat die LMU München R(t) ebenfalls im Zeitverlauf berechnet, mit dem letzten Wert 0,8, also auch das ganz ähnlich wie in Deutschland insgesamt.
Die Kurven kann man als Beleg für die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen ansehen – und als Hinweis darauf, dass nicht viel Spielraum für Lockerungsexperimente ohne kompensatorische Schutzmaßnahmen ist. Ob der Kurvenverlauf auch so interpretiert werden kann, dass schon die Maßnahmen vor dem Lockdown ausgereicht hätten, weiß ich nicht. Vielleicht befände sich das Plateau, auf dem R(t) gerade verharrt, sonst etwas über 1? Vielleicht hätten auch weniger starke Maßnahmen ausgereicht? Oder reichen ab jetzt? Das müssen neuere und bessere Daten zeigen, und klügere Köpfe als ich bewerten.
So oder so: Wir werden in der nächsten Zeit viel darüber zu diskutieren haben, wie es weitergehen soll. Dabei geht es nicht nur um komplizierte Statistik, sondern auch darum, wie wir Sicherheit gegen Freiheit gewichten, wie alte und kranke Menschen leben sollen, wenn das Virus weiter zirkuliert, wie den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise am besten zu begegnen ist – und auch, wie wir uns besser auf die nächste Pandemie vorbereiten als auf diese. Diese Vorbereitung betrifft nicht nur die Bevorratung von Schutzausrüstung, sondern auch die Bevorratung mit Know How, um die für die Politik nötigen Daten schneller als dieses Mal zu bekommen.
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Annex: Die neue Zeitrechnung n.C. heißt im Englischen A.D. (After Disease)
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