Zu Beginn der Coronakrise war ein Thema beherrschend: Wie wird die Epidemie verlaufen, werden die Intensivbetten ausreichen, wie viele Menschen werden sterben. Das worst case-Szenario, eine gleichmäßige Durchseuchung der Bevölkerung bei einer Basisreproduktionszahl von vielleicht 3 und damit 60 – 70 % Infizierten, bis Herdenimmunität erreicht ist, bei einer Letalität, die – bei ausreichender Versorgung – auf dem Niveau der saisonalen Influenza liegen mag, hätte das Gesundheitswesen nicht bewältigt und die Zahl der Toten hätte die Gesellschaft noch mehr erschüttert als die ergriffenen Maßnahmen.

Seit geraumer Zeit ist absehbar, dass „flattening the curve“ funktioniert, die Betten reichen aus, die Sterbezahlen sind zwar nicht zu vernachlässigen, aber auch nicht aus dem Ruder gelaufen. Vor diesem Hintergrund wird seitdem über den Preis der Seuchenbekämpfung diskutiert, den wirtschaftlichen, sozialen und demokratischen Preis. Zu Recht.

In den letzten Tagen haben dabei zwei Aussagen von Politikern, Boris Palmer und Wolfgang Schäuble, für Schlagzeilen gesorgt.

Palmer:

„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“

Rein von der Sache her stimmt das. Viele der Sterbefälle mit oder durch Corona sind multimorbide hochaltrige Menschen. Nicht nur, aber ganz überwiegend. Aussagen dieser Art werden in Deutschland – historisch informiert durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus – schnell als Anspielung auf „lebensunwertes Leben“ und „Ballastexistenzen“ gelesen. In diesem Assoziationsfeld will sich Palmer natürlich nicht verorten, so brutal wollte er es hinterher dann doch nicht gemeint haben. Er hat sich entschuldigt und sagte, „niemals würde ich älteren oder kranken Menschen das Recht zu leben absprechen“. Glauben wir ihm einmal, dass er unbedacht vor sich hingeredet hat, nur mediale Aufmerksamkeit vor Augen und nicht den Inhalt seiner Worte und deren Wirkung auf alte Menschen oder solche, die sich darüber im Klaren sind, selbst einmal alt zu werden.

Schäuble:

„Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“

Auch das stimmt natürlich. Die Gesellschaft trifft ständig Abwägungen darüber, was ihr Menschenleben wert sind. Das gilt vom Umgang mit den Flüchtlingen, von der Wirtschaftspolitik gegenüber der Dritten Welt, dem Wissen über die tödlichen Folgen sozialer Ungleichheit („diese Wirtschaft tötet“), der beunruhigenden Hinnahme des Klimawandels oder der wissenschaftsignoranten Diesel-Politik der Dobrindts und Scheuers bis hin zum manchmal exorbitanten Aufwand für die Rettung einzelner Menschen aus konkreter Not. Oder eben bis hin zu den Maßnahmen in der Coronakrise. Meist wird die Abwägung implizit getroffen. Niemand macht gerne die Rechnung ganz offen auf, wie viel ihm ein Menschenleben wert ist. Bestenfalls geschieht das noch komparativ, z.B. beim Vergleich medizinischer Interventionen in der gesundheitsökonomischen Evaluation anhand von qualitätsadjustierten Lebensjahren.

Schäubles Aussage kann man aber auch noch anders verstehen, weniger aus dem allgemein gesellschaftlichen Blickwinkel, mehr aus dem Blickwinkel der Betroffenen selbst. Man darf beispielsweise annehmen, dass viele alte Menschen nicht zu Tode geschützt werden wollen, dass sie vielmehr darüber mitreden möchten, ob sie das Risiko einer Infektion als Preis für den Besuch ihrer Angehörigen im Heim oder, die Rüstigeren, für einen Ausflug im Wanderverein akzeptieren oder nicht.

Ob Schäuble es so gemeint hat, weiß man so wenig wie man weiß, was Palmer gemeint hat. Aber wir sollten wissen, was wir meinen. Ceterum censeo: Die Debatte darüber, wie es weitergehen soll, geht uns alle an. Wir sollten sie gut informiert führen, in kritischer, aber vernünftiger Betrachtung dessen, was die Wissenschaft weiß und was sie nicht weiß. Nur auf der Grundlage starker Meinungen mitzureden, ist gefährlich. Je unbedachter wir über die Coronakrise reden, desto mehr Vorschub leisten wir denen, die meinen, das solle man doch den Profis überlassen. Wenn die unbedacht vor sich hinreden, haben sie es halt zur Not nicht so gemeint.

Kommentare (24)

  1. #1 RPGNo1
    1. Mai 2020
  2. #2 RainerO
    1. Mai 2020

    Zu Palmer geht es auch noch eine stufe böser.

  3. #3 shader
    1. Mai 2020

    In der Hinsicht stehe ich Schäuble bei den Zitaten näher als Palmer. Bei Palmer habe ich immer die Vermutung, dass er ein bewusster Provokateur ist, oder was schlimmer wäre, keine Ahnung hat, welche Botschaften seine Aussagen liefern.

    Aber zurück zum Zitat von Schäuble, ich würde es gerne ergänzen, weil das noch besser erklärt, worum es ihn geht:

    “Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.”

    • #4 Joseph Kuhn
      1. Mai 2020

      @ shader:

      “die Würde des Menschen. Die ist unantastbar.”

      Wobei das aus dem Munde des Abkanzlers etwas nach Sonntagsrede klingt.

  4. #5 rolak
    1. Mai 2020

    weiß man so wenig wie man weiß

    Selbstverständlich nicht, Joseph, ist imho allerdings auch weder notwendig, um die Aussagen zu bewerten, noch ausreichend, eine Fehlformulierung zu relativieren.
    ad1) wenn bekannt ist, wie es gemeint war, bleibt die gemachte Aussage dieselbe, doch die aussagende Person kann sicherlich anders bewertet werden: falls es anders gemeint war (leichtfertig, gedankenlos,… und ich hätte auch noch gerne den kurzen knackigen Satz, der eigentlich gesagt werden sollte) oder doch genau so (untragbar). Der klassische DoppelFettnapf – ein richtig guter Ausgang ist nicht mehr drin.
    ad2) das war kein Gebrubbel nach der 8.Runde am Stammtisch, sondern ein im geplanten Interview gesetztes statement. Auch schon im Beispielsszenario, erst recht allerdings im realen gelten aber für Amtsträger andere Regeln als für den berühmten Otto, den Normalbürger – und generell und besonders speziell in kritischeren Situationen Öl ins Feuer zu gießen kann nicht nur Rechtspopulisten als grober Fehler angekreidet werden. Geht aber auch ohne Amt – das vor Zeiten beliebte “Haut die Bullen platt wie Stullen” war ebenfalls ein unsäglicher Griff ins Klo.

  5. #6 Gerald Fix
    1. Mai 2020

    Den dritten Topintellektuellen bitte nicht vergessen, den Castorf, der sich jetzt für Che Guevera hält, weil er sich nach dem Strullern die Hände nicht wäscht …

  6. #7 Uli Schoppe
    1. Mai 2020

    @Joseph Aber das er menschenverachtendes Verhalten an den Tag legt macht seine Aussage nicht unwahr oder?

    Das wir mit der ausgesetzten! Wehrpflicht das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht am Leben zu bleiben ausser Kraft setzen ist ganz normal ^^ Das ich als Zuvieldienstleister bei einer bewaffneten Auseinandersetzung nätürlich zum Dienst hätte verpflichtet werden können halten auch alle für normal. Und NEIN, ich habe meine Verweigerung nicht darauf gegrundet das ich keinen Menschen töten könnte.

    • #8 Joseph Kuhn
      1. Mai 2020

      @ Uli Schoppe:

      “Aber das er menschenverachtendes Verhalten an den Tag legt macht seine Aussage nicht unwahr oder?”

      Nein, natürlich nicht. Es macht ihn nur unglaubwürdig, wenn er davon spricht, wie wichtig ihm die Menschenwürde ist. Das ist realitätsdistantes Moralisieren im Abstrakten, wie man es ja oft findet. An sich ist man dafür, jedem Menschen in seiner Not zu helfen, aber bei dem, der gerade vor einem steht, gibt es konkrete Gründe, nicht zu helfen; an sich findet man, dass man niemanden demütigen soll, aber der XY hat es verdient; an sich …

  7. #9 RPGNo1
    1. Mai 2020

    @shader

    Bei Palmer habe ich immer die Vermutung, dass er ein bewusster Provokateur ist, oder was schlimmer wäre, keine Ahnung hat, welche Botschaften seine Aussagen liefern.

    Ich gehe noch einen Schritt weiter. Bei Palmer habe ich immer öfter das gefühl, dass er der Sarrazin der Bündnisgrünen werden will.

  8. #10 Michael Gronemeyer
    Cremlingen
    1. Mai 2020

    Man könnte sich auch die Frage stellen, ob mit einem Verbot des Rauchens oder des Alkohols nicht mehr Lebensjahre gerettet werden könnten, als mit den Corona-Verboten. Ungerecht wäre allerdings, dass die Drogenverbote nur die Süchtigen treffen würden und nicht alle.

    • #11 Joseph Kuhn
      1. Mai 2020

      @ Michael Gronemeyer:

      “Man könnte sich auch die Frage stellen, ob mit einem Verbot des Rauchens oder des Alkohols nicht mehr Lebensjahre gerettet werden könnten, als mit den Corona-Verboten.”

      Die Frage ist einfach zu beantworten und wurde hier auch schon mehrfach beantwortet: Rauchen verursacht ca. 120.000 vorzeitige Sterbefälle in Deutschland, jährlich, immer wieder. Aber die Gesellschaft hat sich entschieden, dass jeder das Recht hat, sich rauchend etwas schneller aufs Grab zuzubewegen.

      “Ungerecht wäre allerdings, dass die Drogenverbote nur die Süchtigen treffen würden und nicht alle.”

      Vor allem, wenn ein Rauchverbot nicht auch die Nichtraucher treffen würde. 😉

  9. #12 Uli Schoppe
    1. Mai 2020

    @Joseph

    Natürlich habe ich nicht über seine persönliche Glaubwürdigkeit geredet 😉
    Ich fand das nur beindruckend das meine Frau nachdem wir das Zitat zusammen im Fernseher hatten sowas in der Richtung gesagt hat: “Der ist zwar ein echter $%%& aber da hat er Recht” Sinngemäß aber nicht verfälschend 😉

    Verfassungsrecht ist schwierig, in diesem Forum habe ich aber den Gedanken das sich hier viele darüber gar keine Gedanken machen. Dich ausgenommen.

  10. #13 Michael
    1. Mai 2020

    Palmer & Schäuble zeigen wie weit die Fa­schi­sie­rung in Deutschland bereits vorangeschritten ist. Was vor Jahren noch in den Bereich der NPD oder AfD gehörte ist im Mainstream angekommen.

    “Die Gesellschaft trifft ständig Abwägungen …”
    ” Aber die Gesellschaft hat sich entschieden … rauchend …”

    Die Gesellschaft trifft bestimmt keine Abwägungen, die einzige die abwägt und Entscheidungen trifft ist die Wirtschaft bzw. ihr politisches Personal.

    Nebenbei: Man kann sich nicht selbst entschuldigen, man kann nur darum bitten.

    • #14 Joseph Kuhn
      1. Mai 2020

      @ Michael:

      “Die Gesellschaft trifft bestimmt keine Abwägungen”

      Sie haben die Selbstgewissheit eines Zeloten. Fahren Sie Auto? Verbrauchen Sie Kohlestrom? Falls ja, nehmen Sie teil an der damit verbundenen impliziten Abwägung des Nutzens dieses Konsums mit den dadurch verursachten Sterbefällen und sonstigen Gesundheitsschäden.

      Man macht es sich zudem sehr einfach, wenn man die eigenen Hände in Unschuld wäscht und “die Wirtschaft bzw. ihr politisches Personal” für alles verantwortlich macht. Die Kehrseite solcher solcher Rechtfertigungen ist die politische Selbstkastration. Das ist dann das Gleiche wie auf der anderen politischen Seite, die auch immer betont, man könne ja sowieso nichts machen, deswegen brauche man keine Demokratie, und die Eliten seien an allem schuld.

  11. #15 Alisier
    1. Mai 2020

    Mir wäre wichtig, dass irgendwann in ferner oder auch nicht so ferner Zukunft, nicht nur die Alten und Schwachen des eigenen Stammes im Fokus der Sorge landen, sondern dass wir uns endlich bewusst werden, das dies eine Welt ist, und die Probleme alle angehen und alle betreffen.
    Mir ist der Blickwinkel immer noch zu eng, und auch wenn ich, wie in den Beiträgen von Schäuble und Palmer ebenfalls angeklungen, weiß, dass man nicht allen wird helfen können, so ist diese Art Empörung wohlfeil.
    Die Diskussion sollte viel breiter geführt werden, nicht unbedingt jetzt, in der akuten Phase, sondern wenn das Schlimmste vorbei ist.
    Mir ist es zunehmen fremd in Landesgrenzen zu denken, und auch wenn politisch Verantwortliche das in gewissem Maße tun müssen, ist es nicht mehr zeitgemäß.

  12. #16 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    2. Mai 2020

    Wer eine Person wie Herrn Schäuble verstehen will, könnte die Literatur rezipieren, die dieser Herr in seinen Vorträgen zitiert und empfiehlt.

    Um die Gedankenwelt dieses Politikers zu verstehen, empfiehlt sich insbesondere das Machwerk “Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ von Otto Depenheuer, einem Schüler des Volksgerichtshof-Vordenkers der Nazis, Carl Schmitt. Dort wird das “notwendige” Bürgeropfer gefordert. Der Staat habe das Recht, Bürger zu töten.

    • #17 Joseph Kuhn
      2. Mai 2020

      @ Volker Birk:

      “Wer eine Person wie Herrn Schäuble verstehen will …”

      Ich will das nicht.

      “Der Staat habe das Recht, Bürger zu töten.”

      Wenn man diesen Satz aus der Schäuble verurteilenden Form schält, könnte daraus ein zum Blogthema passendes Argument werden. Soll man das Recht, darüber zu bestimmen, wie viele Menschenleben um welchen Preis zu retten sind, oder wie viele Menschenleben die Rettung der Wirtschaft wert ist, an den Staat delegieren? Oder soll man diese Abwägung lieber vermeiden und es “irgendwie” geschehen lassen, implizit, vernebelt in der Komplexität des Streits über Fragen, wann Gaststätten öffnen dürfen oder Fussballspiele sein dürfen? Muss man sie vielleicht sogar vermeiden, damit die Gesellschaft nicht offen biopolitisch Menschenleben bewirtschaftet?

  13. #18 Smørrebrød
    2. Mai 2020

    Zum Kommentar von Volker Birk passt auch noch dieses Fundstück:

    Innenminister Schäuble will den Abschuss eines entführten Flugzeugs im Falle einer drohenden Terrorgefahr doch noch möglich machen. Das Bundesverfassungsgericht hatte Anfang 2006 das Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Schäubles Plan: ein Kunstgriff in das Grundgesetz.

    Quelle

    • #19 Joseph Kuhn
      2. Mai 2020

      @ Smørrebrød:

      Darf ich den Kommentar als unbewusstes Plädoyer dafür interpretieren, das empirische Problem, wie viele Leben mit welchem Aufwand zu retten sind, bzw. wie viele Sterbefälle für das Wiederanlaufen der Wirtschaft und des “normalen” Lebens in Kauf zu nehmen sind, lieber mit der “irgendwie geschehen lassen”-Variante zu lösen? 😉

  14. #20 shader
    3. Mai 2020

    Ich habe das Gefühl, dass man lieber den Träger einer Botschaft bewerten will (in dem Fall Herrn Schäuble) als die Botschaft selbst. Erinnert mich an den Versuch vor einigen Monaten lieber Greta Thunberg als Person zu betrachten (und ggf. anzugreifen), als sich mit ihren Aussagen zu befassen.

  15. #21 Alisier
    3. Mai 2020

    Das Gefühl täuscht wohl leider nicht, shader.
    Sehr treffender und nötiger Kommentar von Dir, wie ich finde.

  16. #22 noch'n Flo
    Schoggiland
    4. Mai 2020

    @ shader:

    Apropos Greta Thunberg – so mancher scheint ihr in der aktuellen Krise vielleicht doch mehr zuzutrauen, als sie leisten kann:

    https://www.stern.de/news/buergermeister-von-amazonas-stadt-bittet-greta-thunberg-wegen-corona-um-hilfe-9248222.html

  17. […] Allerdings hat Christoph Lütge seine Kritik mit ethisch höchst fragwürdigen Argumenten garniert. So wird er vom Bayerischen Rundfunk etwa mit der Position zitiert, dass an Covid-19 vor allem alte Menschen sterben, die den Aufwand nicht wert sind: „Diese Menschen wären ohnehin an anderen Krankheiten gestorben.” Solche Sätze aus dem Mund eines Ethikers sind bemerkenswert. Und nicht besonders intelligent, weil sie einen bekannten medialen Vorlauf haben. […]

  18. […] schließlich Geld, die Pflegekräfte retten nur Menschenleben. Noch dazu solche, die vielleicht „in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Ob das den ganzen Aufwand lohnt? Vermutlich ist in der Pflege auch der Wettbewerb um die besten […]