Vorgestern hat die Pressestelle des Ifo-Instituts, ein renommiertes Wirtschaftsforschungsinstitut der Leibniz-Gemeinschaft, die Weltpresse auf Deutsch und Englisch mit einer guten Nachricht beglückt: „Im Jahr 2020 ist bis zum 18. April keine Übersterblichkeit erkennbar.“ Alles nur Zufallsschwankungen, nicht mehr. Die Presse hat das übernommen, große und kleine Medien, solche mit Wissenschaftsredaktion und solche, bei denen eher Kleinanzeigen das Kerngeschäft ausmachen. Aber bis heute ist die Ifo-Analyse nicht veröffentlicht. Auf Nachfrage erhält man ein kurzes Papier mit einer guten Seite Beschreibung und mehreren Seiten Verlaufsgrafiken.
Das Ifo-Institut hat mit den Sterbefällen des Statistischen Bundesamtes, die auch hier schon mehrfach vorgestellt wurden, Sterberaten gebildet und die wöchentlichen Sterberaten für 2020 mit dem Durchschnitt der Jahre 2016-2019 verglichen. Man hat dem wöchentlichen Verlauf eine Sinuskurve als Baseline hinterlegt, dazu Konfidenzintervalle (80 %, 90 %, 95 %) gebildet und dann festgestellt, dass man nichts feststellen kann. Zufällig passt die Botschaft zum Anliegen der Wirtschaft, bei den Lockerungen des Shutdowns mutiger voranzuschreiten. Aber das ist sicher nur Zufall. Und um Zufallsschwankungen geht es in der Ifo-Analyse ja.
Mich erinnert das ein bisschen an Lehrer Bömmel aus der Feuerzangenbowle. „Wat is´n en Effekt? Da stelle ma uns mal janz dumm, und sagen, en Effekt is‘n jroßer, runder, schwarzer Raum mit zwei Löchern. Durch das eine kommt die Signifikanz rein, un das andere krieje ma späta.“
Die Frage ist, ob man sich im Zusammenhang mit der Übersterblichkeit so dumm stellen darf, als ob man gar nichts wüsste und daher Daten, ganz wissensfrei, als ob sie auf reinem Zufall beruhen könnten, daraufhin testet, wie wahrscheinlich sie tatsächlich rein zufällig sind. Das ist im Falle, dass man nichts weiß, die Standardprozedur: Wenn man Zufall nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen kann, sagen wir 80 %, 90% oder 95 %, dann gehen wir davon aus, dass da kein Effekt, sondern nur der Zufall am Werk war. Wie gesagt, das macht man, wenn man nichts weiß. Wenn man etwas weiß, übergeht man so dieses Vorwissen. Wenn in den Alpen ein Bus verunglückt und alle sterben, erhöht das nicht signifikant die Sterberate Bayerns. Aber das Busunglück hat trotzdem stattgefunden, das weiß man und das Busunglück wird nicht durch einen Signifikanztest unwirklich.
Man kann jetzt fragen, wissen wir das auch bei der Übersterblichkeit 2020? Das wissen wir, und zwar definitiv, weil die Sterbefälle, wie sie das Statistische Bundesamt berichtet und wie sie für die Ifo-Analyse verwendet wurden, eine Vollerhebung darstellen und keine fehlerbehaftete Stichprobe aus welcher Grundgesamtheit auch immer. Wir wissen auch, dass der Beginn der nachzählbaren Übersterblichkeit gut zum Verlauf der Epidemie passt, dass die neuerdings zu beobachtende Abnahme der Übersterblichkeit ebenfalls gut zum Verlauf der Epidemie passt, dass der Effekt also sogar eine inhaltlich aussagekräftige Form hat, übrigens in Bayern ebenso wie in Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg, also gewissermaßen unabhängigen Stichproben. Wir könnten uns bestenfalls darüber streiten, ob die Übersterblichkeit deswegen auf das Virus zurückzuführen sein muss oder ob das eine zeitlich zufällige Koinzidenz oder ein Confounding mit dem Verlauf der Epidemie sein könnte. Das müsste man in manchen Ländern durchaus in Rechnung stellen, wenn z.B. die Versorgungskapazitäten nicht gereicht haben und deswegen mehr Menschen gestorben sind. Auch bei uns wird auf lange Sicht die coronaassoziierte Exzesssterblichkeit möglichweise durch Effekte bestimmt, die durch die Krise bedingt sind, aber nicht direkt durch das Virus verursacht. Jetzt ist das noch nicht anzunehmen.
Darum ging es dem Ifo-Institut aber nicht, ihm ging es um die Übersterblichkeit an sich. Die ist im Konfidenzintervall untergegangen, wie übrigens auch die Übersterblichkeit in den heißen Sommertagen 2018 und wie so manches Busunglück. Das Ifo-Institut wäre gut beraten, nach zwei Tagen seine Analyse zu veröffentlichen und klar zu erläutern, was in diesem Fall mit der Nichtsignifikanz ausgesagt werden kann und was nicht. Nicht, dass man doch noch wie vor kurzem beim Statistischen Landesamt Nordrhein-Westfalen auf ungute Gedanken kommt, „shaping the economic debate“, zum Beispiel. Die Analyse sagt, so sehe ich es, lediglich, dass es bisher keine besonders große Übersterblichkeit gibt. “German mortality rate barely increases despite coronavirus outbreak”, so heißt es ja auch auf der Ifo-Homepage. Darüber besteht Konsens, das war das Ziel aller politischen Maßnahmen.
An diese Diskussion lässt sich übrigens eine interessante philosophische Frage anschließen: Wann wissen wir so viel über eine Sache, dass wir uns nicht wie Lehrer Bömmel verhalten sollten, wann noch nicht? Und sicher kann man kluge statistische Anmerkungen machen, das überlässt der einfache Datenhandwerker gerne den Fachleuten.
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