Vor einer guten Woche hatte ich hier gefragt, wie es jetzt, nachdem die epidemiologische Entwicklung trotz der Zunahme diagnostizierter Fälle eigentlich ganz positiv aussieht, coronapolitisch weitergehen sollte. Die Autorengruppe um Matthias Schrappe, die seit Monaten mit ihren Thesenpapieren die Coronapolitik in Deutschland kritisch, aber ohne Obskurantentum, begleitet, hat heute hat heute ihr viertes Thesenpapier in die Diskussion eingebracht und versucht damit Antworten auf die aktuelle epidemiologische Situation zu geben. Es wird in Kürze auch im Monitor Versorgungsforschung online sein. Das Papier umfasst 88 Seiten mit 19 Thesen – als Sonntagsservice hier frühstücksgerecht, wenn auch nicht auf Twitterlänge, komprimiert:
These 1: “In den letzten Wochen ist es zu einer Zunahme der täglich neu gemeldeten Infektionen mit SARS-CoV-2/Covid-19 von ca. 300 Fällen/Tag auf derzeit ca. 1350 Fällen/Tag (34. KW) gekommen. Die wöchentlichen Testzahlen wurden von ca. 400.000 auf fast 900.000 massiv ausgeweitet. Die Rate positiver Testergebnisse ist dagegen in den letzten Monaten von 9% auf ca. 1% abgefallen. Da weiterhin Kohortenuntersuchungen mit einer repräsentativen Stichprobe fehlen, sind die Effekte der spontanen Entwicklung der Epidemie und dem deutlich ausgeweiteten Stichprobenumfang nicht zu differenzieren. Es dominiert jetzt der sporadische Ausbreitungstyp, der anders als Herdausbrüche allein durch Testung und Nachverfolgung nicht zu beherrschen ist.
These 2: Die Interpretation der gemeldeten Neuinfektionen muss die hohe Rate falsch-positiver Befunde in Niedrigprävalenzkollektiven (1-3%) berücksichtigen, die mehr als die Hälfte der Befunde umfasst – soweit man die tatsächliche Infektiosität als Bezugspunkt festlegt. Daher sind Bestätigungsteste und die Konzentration auf Hochrisikokollektive angezeigt. Studien zur Infektiosität in der zweiten Woche der Infektion sind dringend geboten, denn hier könnte die Quarantäne verkürzt werden (…).
[…]
These 4: Hospitalisierungsrate und Mortalität der erkrankten Infizierten sind in KW31 von über 25 bzw. 7% auf 9 resp. 0,4% abgesunken. Die Zahl der intensivmedizinisch behandlungspflichtigen CoViD-19 Patienten ist deutlich von 3000 auf 220-240 abgefallen. (…) Als Gründe für diese Entwicklung müssen die bessere Vorbereitung des Gesundheitssystems, die Testung klinisch unauffälliger Personen und das deutlich sinkende Alter der Infizierten gelten (…) Die politische Einschätzung muss (…) bei der Darstellung von Neuinfektionen darauf hinweisen, dass populationsweit das Erkrankungs- und Komplikationsrisiko deutlich zurückgegangen ist.
[…]
These 7: Die Testung ist auf Subkollektive mit möglichst hoher Vortestwahrscheinlichkeit zu beschränken (…), außerdem sollten Kollektive mit höherem oder unbekanntem Infektionsrisiko (z.B. Lehrer, Kindergartenmitarbeiter) und Kollektive mit hohem individuellem Risiko für Komplikationen (z.B. Bewohner von Pflegeheimen und deren Angehörige, ambulante Pflege) getestet werden. Alle positiven Primärbefunde sind sofort zu kontrollieren (Wiederholung der PCR …). Als Teststrategie ist das Erreichen einer stabilen Kontrolle den denkbaren Alternativen der Eradikation (unrealistisch) und Herdenimmunität (schwer steuerbar) vorzuziehen (…).
[…]
These 9: Soziale Teilhabe und Sicherung der Lebensqualität sind für Pflegeheimbewohner auch unter den Bedingungen der CoViD-19-Epidemie wichtige Ziele, die mit den Zielen des Infektionsschutzes in Einklang zu bringen sind. Es mehren sich jedoch Berichte, dass negative Nebeneffekte der Isolationsmaßnahmen in den Langzeitpflegeeinrichtungen z.T. ein menschenunwürdiges Maß angenommen haben und geeignet sind, die Würde der Bewohner zu gefährden; diese Zustände sind unverzüglich zu beenden. Auch unter den Bedingungen des Infektionsschutzes sind die Bedürfnisse und Bedarfe der Bewohner vollumfänglich zu gewährleisten. (…) Innovative Konzepte müssen dringend entwickelt und evaluiert werden.
[…]
These 11: In der ersten Phase der Epidemie haben die Mitarbeiter in den Institutionen des Gesundheitswesens, der Pflege- und der Gemeinschaftseinrichtungen die gleiche Infektionslast zu tragen wie die Patienten, Bewohner und Betreuten (nosokomiale Infektionen). (…) Die mangelnde Vorbereitung der Institutionen (z.B. fehlende Schutzausrüstung, mangelnde organisatorische Vorbereitung) hat erhebliche Konsequenzen gezeigt. Derzeit kommt es zu einem leichten Anstieg der nosokomialen Übertragung auf Patienten, Bewohner und Betreute; auch dieser Verlauf bedarf einer kritischen Beobachtung.
[…]
These 14: Die Wiedereröffnung der Kindergärten und Schulen wird möglicherweise eine Erhöhung der täglich gemeldeten Infektionszahlen zur Folge haben (…). Allerdings kann man davon ausgehen, dass diese Infektionen wegen der geringeren Erkrankungsrate und –schwere bei Kindern und Jugendlichen die Krankheitslast der Bevölkerung insgesamt nicht negativ beeinflussen wird (infiziert heißt nicht erkrankt) – wirksame Zielgruppen-orientierte Präventionsansätze vorausgesetzt. Vermehrte Anstrengungen zur wissenschaftlichen Klärung der Rolle der Kinder müssen mit Outcome-orientierten Endpunkten intensiviert werden.
These 15: (…) Die durch das Tragen von Masken erreichte relative Risikoverminderung um 80% [die Autoren nehmen hier auf eine aktuelle Metaanalyse Bezug, JK] bedeutet in einem Hochrisikobereich mit einer Infektionswahrscheinlichkeit von 10% (z.B. ein Tag Arbeit auf einer Intensivstation) eine Reduktion auf 2% bzw. eine absolute Risikodifferenz von 8%, so dass 12,5 Personen eine Maske tragen müssen, um eine Infektion zu verhindern. Betrachtet man jedoch einen einstündigen Aufenthalt von 100 Personen in einem Supermarkt und setzt dafür ein Infektionsrisiko von 0,01% an (Prävalenz 1%, Infektionsrisiko bei einstündigem Aufenthalt in einem sehr großen Raum zusammen mit einem Infizierten 1%), dann senkt das Tragen einer Maske dieses Risiko auf 0,002%. Bei dieser absoluten Risikodifferenz von 0,008% müssen demnach 12.500 Personen in dieser Situation eine Maske tragen, um eine Infektion zu verhindern. Daher sind sowohl diese epidemiologischen Daten wie aber auch die damit zusammenhängenden differenzierten Maßnahmen und Empfehlungen zu berücksichtigen (…).
These 16: Die Zahl der Obduktionen ist durch den Verlauf der Epidemie deutlich abgesunken, liefert jedoch in jedem Fall wertvolle Informationen zum Krankheitsverlauf und zur Beschreibung der Risikogruppen, die im Rahmen einer Ziel-orientierten, spezifischen Präventionsstrategie einen besonderen Schutz erhalten müssen.
These 17: (…) Die Rollen von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten werden nicht hinreichend voneinander abgegrenzt. In der Folge ließ sich zumindest in den politischen Medien eine gewisse Diskursverengung und eine Überbetonung der Alternativlosigkeit von Entscheidungen beobachten. Erst nach und nach entwickelte sich eine lebhafte Debatte in den Feuilletons und in den Medienwissenschaften.
These 18: Angesichts des Ausmaßes an sozialen und ökonomischen Verwerfungen ist es alles andere als überraschend, dass die Covid-19 Pandemie schon jetzt zu starken Veränderungen in der Wählergunst geführt hat. Im Kontext offener Parteipersonalfragen und eines kommenden Wahljahres stehen für das handelnde politische Personal alle Maßnahmen unter der Perspektive ihrer kurzfristigen politischen Konsequenzen. Das ist einem abgestimmten und angemessenen Umgang mit dem epidemischen Geschehen nicht notwendigerweise förderlich. (…).
These 19: Die Einsicht in das Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Medien und seine begründete Kritik ermöglicht, Bedingungen eines „vernünftigen Diskurses“ in Zeiten der Corona-Pandemie zu formulieren, die als idealiter zu befolgende Grundnormen oder Grundregeln Geltung für Wissenschaft, Politik und Medien im Interesse demokratischer Meinungsbildung beanspruchen. Die Trennung von Fakten und Meinungen, die Transparenz bei Entscheidungen unter Unsicherheit und das Vertrauen in die nicht angst-, sondern begründungs- und überzeugungsvermittelte demokratische Entscheidungsfähigkeit der Bürger sind die wichtigsten Bedingungen einer gelingenden Kommunikation auch in Zeiten der Corona-Pandemie.”
Wie bereits in den ersten drei Thesenpapieren geht es also vor allem um eine Verbesserung der Datenlage, die sorgfältige Beobachtung der Entwicklung und eine differenzierte Maßnahmenplanung. Zu Recht geben die Autor/innen der Situation in den Heimen viel Raum und mahnen an, hier ganz besonders auf die Balance zwischen Infektionsschutz und Menschenwürde zu achten.
Lesenswert sind auch die Überlegungen der Autor/innen zum Zusammenspiel von Wissenschaft, Politik und Medien am Ende ihres Papiers. Warum es dazu keine These 20 zur Enttarnung der Bill-Gates-Verschwörung und der Lügenpresse sowie zum Sturz der Merkeldiktatur gibt, mögen sich alternativfaktische Fachleute selbst beantworten, also bitte nicht hier im Blog.
Kommentare (47)