Japan ist ein Land, das in Sachen Corona in mancherlei Hinsicht anders tickt als Deutschland. Ende Februar, Anfang März war ich dort und konnte z.B. viele touristische Orte nur noch von außen besichtigen, weil sie coronabedingt geschlossen waren. Einen Lockdown mit weitgehender Einschränkung des Wirtschaftslebens gab es in Japan aber nicht. Trotzdem ist das Land recht gut durch die Krise gekommen. Worldometer dokumentiert heute 1.851 Corona-Sterbefälle. Da Japan nur sehr wenig testet, dachte ich lange, dass die Corona-Sterbefälle zu einem guten Teil unsichtbar bleiben – bis sich herausgestellt hat, dass es in Japan im Frühjahr anders als hier auch keine Übersterblichkeit gab, also insgesamt nicht mehr Menschen als normal gestorben sind. Derzeit befindet sich Japan in der dritten Welle der Epidemie.
Dann konnte man in den Medien lesen, dass in Japan die Suizide rückläufig waren. Als ein Grund wurde abnehmender Arbeitsdruck im Zusammenhang mit der Coronakrise genannt. Japan hat in normalen Zeiten eine hohe Suizidrate. Jetzt berichtet die Japan Times, dass die Suizide seit Sommer zunehmen und im Oktober den höchsten Stand seit fünf Jahren erreicht haben. Gegenüber dem Oktober 2019 ist die Zahl bei den Frauen um mehr als 80%, bei den Männern um mehr als 20% angestiegen. Dies sei, so das Blatt, auf die ökonomischen Folgen der Coronakrise zurückzuführen. Frauen sind davon besonders betroffen, weil sie häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig sind und ihre Arbeit verloren haben. Aus Scham bringen sich manche dann um.
In Deutschland gab es nach polizeilichen Statistiken zumindest bis Sommer keine erhöhten Suizidzahlen. Wir haben eine andere Arbeitsmarktstruktur, die Regierung versucht mehr oder weniger erfolgreich, den wirtschaftlichen Folgen der Krise gegenzusteuern, die Kultur der Scham ist bei uns weniger ausgeprägt und wir haben mehr Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis. Daher kann es gut sein, dass die Suizide bei uns nicht oder nicht stark zunehmen.
Allerdings ist aus Studien bekannt, dass tiefgreifende Krisen häufig zu einer Zunahme von Suiziden führen, auch in europäischen Ländern, zuletzt ausgeprägt nach der Finanzkrise 2007. Die Entwicklung der Suizidzahlen bleibt also zu beobachten – und niedrigschwellige Angebote der Krisenberatung sollten neben wirtschaftlichen Hilfen Teil des Corona-Managements sein. Und auch unabhängig von den Suiziden gilt es, die sozialen und gesundheitlichen Folgen der Krise im Auge zu behalten. Sozialforschung im Zusammenhang mit der Coronakrise ist daher genauso wichtig wie virologische oder epidemiologische Forschung, zumal die Coronakrise, auch wenn das Virus im nächsten Jahr hoffentlich zurückgedrängt ist, nicht vorbei sein wird.
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