Die Corona-Thesenpapiere der Autorengruppe um Matthias Schrappe wurden hier schon mehrfach erwähnt. Sie gehören zum Chor der „seriösen Coronakritik“. Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was sie schreiben, aber sie machen auf relevante Probleme der Coronapolitik aufmerksam und formulieren dazu gute und diskussionswürdige Punkte.
In ihrem letzten Thesenpapier schlagen sie einen „Notification Index“ vor, der das Infektionsgeschehen besser abbilden soll als die Zahlen, die in den Medien immer wieder berichtet werden. Dabei haben sie aber möglicherweise nicht gut genug nachgedacht. Die Epidemiologin Dr. Dagmar Pattloch hat sich den Index einmal näher angesehen und kommt in ihrem Gastbeitrag hier zu dem Schluss, dass er nicht wirklich weiterhilft.
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Dr. Dagmar Pattloch
Wie hilfreich ist ein Notification Index?
Jederzeit singe ich ein Loblied auf informative Kennzahlen. Ich verstehe, dass man sich über schlechte Kennzahlen ärgert und ihren falschen Gebrauch bekämpfen möchte. Gerade nun in der Corona-Pandemie habe ich allerdings wenig Probleme, wie mit Kennzahlen umgegangen wird, mit Information und mit dem Fehlen von Information.
Das sieht die Autor*innengruppe um Matthias Schrappe anders. Sie schreibt sich in ihrem 6. Thesenpapier den Ärger vom Leib. Und sie schlägt zur Beschreibung des Infektionsgeschehens eine Kennzahl Notification Index (NI) vor. Der Input des NI bezieht sich auf einen Zeitraum in einer regionalen Bevölkerung. Er besteht aus
– Melderaten
– Testpositivität
– Testraten
– Heterogenität, einem Quotienten aus Clusterfällen und „sporadisch“ aufgetretenen Fällen.
Die Heterogenität (H) ist bedeutsam, weil sich Infektionscluster leichter unter Kontrollen bringen lassen als sporadische Fälle. Soweit einverstanden. Es fragt sich nur, ob die Beschaffung dieser Information realistisch ist, und woher? Können die Gesundheitsämter oder -ministerien das wissen, vor allem bei hohem Fallaufkommen und bestehender Dunkelziffer?
Aber angenommen, wir kennen H und wir betrachten das Meldegeschehen einer regionalen Bevölkerung innerhalb einer Woche. Dann lässt sich die Formel für NI umformen. Ich schreibe das einmal ausführlich:
Man kann es an den 3 Rechenbeispielen aus dem Thesenpapier überprüfen, dass die Umformung stimmt – das Ergebnis meiner Formel muss nur mit 100 multipliziert werden, um mit dem Papier übereinzustimmen.
Es überrascht, wie stark sich die NI-Formel reduziert: Man braucht nur die quadrierte Testpositivität und die Heterogenität. Es ist jetzt nicht mehr schwer zu beurteilen, ob mich der NI wesentlich voranbringen würde in der Beurteilung des wöchentlichen Infektionsgeschehens in einer Region. Nein, tut er nicht. Denn die Testpositivität ist ja aussagekräftig, auch ohne dass man sie quadriert. Die Meldefälle bzw. -rate und Testanzahl bzw. -rate hätte ich in jedem Fall gern dazu: Es ist aus meiner Sicht kein Vorteil, dass die Kennzahl diesen Input zum Verschwinden bringt. Auch die Heterogenität ist für sich genommen interessant (falls man sie denn beschaffen kann).
Zum Schluss noch ein Einwand allgemeinerer Art: Wenn man NI errechnet, kann man mit dem Wert zurzeit keine anderen Operationen anstellen als ein „größer als“ / „kleiner als“ beim Vergleich verschiedener Regionen zur selben Zeit oder verschiedener Zeiten derselben Region. Das bringt also noch nicht die Orientierungswirkung hervor, die in dem Papier so dringend angemahnt wird. Der Notification Index … nicht hilfreich.
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Nachtrag 6.5.2021: Aus der Autorengruppe wurde nun darauf hingewiesen, dass man Meldefälle nicht einfach mit positiven Tests gleichsetzen könne. Das ist korrekt und ein interessanter Punkt. Die Meldefälle, also der Zähler der vielkritisierten 7-Tagesinzidenz, sind testpositive Personen, die von den Gesundheitsämtern ans RKI gemeldet werden, der Zähler der Positivenrate sind die positiven Tests aus den Labormeldungen, die vom RKI nach Kalenderwochen ausgewiesen werden. Die Formelumstellung beruht also auf einer Annahme, über die man diskutieren kann. Zeigt sie trotzdem eine Redundanz der verwendeten Informationen? Dafür sprechen die numerischen Überprüfungen, siehe dazu auch den Kommentar von Dagmar Pattloch im Thread zum Blogbeitrag vom 1. Mai 2021. Aber man könnte das natürlich auch einmal systematisch überprüfen.
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