Wissen Sie noch, wer das gesagt hat:
„Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“
Es war Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen im Frühjahr 2020. Für diese herzlose Bemerkung hatte er zu Recht viel Kritik erfahren.
Jetzt wird ausgerechnet über Tübingen als Vorbild beim Schutz älterer Menschen gesprochen. Man hat in Tübingen die Älteren mit FFP-2-Masken versorgt, Taxis vergünstigt, damit sie nicht im ÖPNV fahren müssen, sie sollen ihre Einkäufe auf die Zeit von neun bis elf Uhr konzentrieren und man setzt großzügig Schnelltests ein, etwa vor Besuchen in Altenheimen.
Dazu ein geläuterter Boris Palmer:
„Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Älteren besonders zu schützen, weil für sie die Gefahr durch Corona mit Abstand am höchsten ist.“
Von den neun Altenheimen im Tübingen ist einem SWR-Bericht zufolge derzeit nur ein Heim von Infektionen betroffen und dort nur Pflegekräfte, keine Bewohner. Das klingt wie ein Wunder, denn in vielen anderen Regionen grassiert das Virus wieder in den Heimen, als ob alle inzwischen eingeführten Hygienekonzepte samt Schutzausrüstung nichts gegen das Virus bewirken können.
Ist in Tübingen gelungen, was so viele fordern: der gezielte Schutz der Älteren? Oder hat Tübingen bisher einfach nur Glück gehabt? Gibt es von der Sozialstruktur her vergleichbare Städte ohne diese Maßnahmen, in denen ebenfalls nur wenig Ältere infiziert sind? Wenn ja, was könnten sie gemeinsam haben? Oder gibt es Städte mit vergleichbaren Maßnahmen, aber trotzdem vielen Infizierten unter den Älteren? Was unterscheidet sie von Tübingen? Mit anderen Worten: Wie verallgemeinerbar ist Tübingen?
Eine andere Stadt, die immer wieder als Vorbild genannt wurde, Jena, mit einer frühen Maskenpflicht und niedrigen Infektionszahlen, ist inzwischen vom Virus eingeholt worden. Folgt daraus, es wäre kein Vorbild gewesen? Oder wäre es ohne die frühe Maskenpflicht noch schlimmer gekommen?
Es würde sich lohnen, solche als Best Practice gehandelten Beispiele einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, in Regionalvergleichen, wie das bei Jena wiederholt geschehen ist, aber möglichst in einem kontrastiven Design und zudem über den statistischen Vergleich hinaus mit einer möglichst detaillierten Dokumentation der umgesetzten Maßnahmen. Wenn es Lehrbeispiele sind, sollte man auch davon lernen können. Sonst bleibt es eine Wundergeschichte.
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Zum Weiterlesen:
• EBM-Netzwerk: COVID-19 in Alten- und Pflegeheimen: Daten generieren statt modellieren!
• Mühle U et al. (2020) Protecting Vulnerable Populations from COVID-19. HealthManagement.org The Journal 20 (9).
• Penning V, Razum O (2020) Covid-19 in Gemeinschaftsunterkünften und Heimen – Strukturen, Probleme, Handlungsbedarfe. GGW 20 (4).
• Hien W, Schwarzkopf H v. (2020) Corona-Gefährdung im Erleben von Pflegekräften – eine explorative Studie mit Hinweisen auf erweiterte Gesundheitsschutzkonzepte. Bremen.
• Evans I et al. (2013) Wo ist der Beweis. Huber-Verlag.
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