Man liest oft, die Coronakrise böte auch Chancen für eine zukunftsorientierte Neuausrichtung unseres Lebens. Allerdings zeigen sich bisher vor allem Trägheitstendenzen. Viele von uns wollen einfach weitermachen wie bisher, Wirtschaftsverbände klagen die Wiedereinsetzung in den Status quo ante ein, nur kein Strukturwandel, der Profisport folgt der einst ebenfalls in einer Krise ausgegebenen Maxime „the games must go on“ von Avery Brundage, und auch den Kirchen scheint die Vision einer besseren Welt nach der Krise, als Quelle von Hoffnung, zu fehlen.

Paradigmatisch dafür mag ein Gastkommentar der früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, in der Ärztezeitung sein. Ihr Beitrag ist gut gemeint, wie eigentlich alles gut gemeint ist, was sie sagt. „Selten war die Seelsorge so gefragt wie in den letzten Monaten“, so Frau Käsmann, und das ist sicher so. Daher will sie den Kirchenschäfchen Trost spenden und zeigen, dass der Glaube, man ist ja modern, ein „Resilienzfaktor“ in der Krise ist.

Auch dass der Glaube helfen kann, Krisen psychisch zu bewältigen, soll nicht in Abrede gestellt werden. Das zeigt täglich die glaubensstarke Querdenkergemeinde. Das Resilienzstärkungsprodukt von Frau Käsmann damit zu vergleichen, ist natürlich etwas polemisch. Religion sei nicht das Opium des Volkes, sagt sie schließlich ganz explizit, gegen Marx gerichtet. Das bisschen Fussball auch nicht, wird der DFB vermutlich ergänzen. Und über den Neoliberalismus als dem wahren gesellschaftspolitischem Credo der letzten Jahrzehnte spricht man ohnehin nicht gern.

Frau Käsmann will mit ihrem Kommentar sichtlich nicht das Salz der Erde sein, sie will keine Kritik üben an irgendwelchen Missständen, am Wegsehen von den Folgen der Krise in der Dritten Welt beispielsweise, dem verdrängten Klimawandel, oder an der Balkonbeifallrhetorik zum Pflegenotstand hierzulande, auch in den kirchlichen Einrichtungen. Sie will auf das Tiefere hinaus, auf die Krise als memento mori:

„Die eigene Sterblichkeit wird in unserer Gesellschaft in der Regel ignoriert. (…) Deshalb war die Reaktion so heftig, denke ich. Der Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit geht die Spaßgesellschaft in der Regel aus dem Wege.“

„So liegt auch eine Chance darin, mit dem Tod konfrontiert zu sein durch Bilder und Zahlen und zu reflektieren: Wie will ich sterben?“

Angesichts des Todes war die Religion schon immer gefragt. In pastoraler Sprechweise adressiert sie dann ihre Zielgruppe:

„Da sind die Einsamen. (…) Auf einmal gibt es keinen Arbeitsalltag mehr, kein Fitnessstudio ist geöffnet, Treffen mit Freundinnen sind nicht möglich. (…) Braucht mich überhaupt jemand? Macht mein Leben irgendeinen Sinn?“

„Da sind die Aggressiven. Sie wollen nicht akzeptieren, dass ihr Leben eingeschränkt wird. Wie kann das sein? Meine Freiheit wird begrenzt, daran muss jemand schuld sein! (…) In ihnen sehe ich besonders viel Leid, weil sie ihren Zorn gegen andere wenden.“

„Da sind die Verunsicherten. Sie wollen ihre Mutter im Altenheim besuchen und dürfen nicht. Sie würden gern Essen gehen und alles ist geschlossen.“

„Da sind Menschen in einer ökonomischen Krise. (…) Sie müssen vielleicht das Haus verkaufen, das sie gerade für ihre Familie gebaut haben. Existenzen, Lebenspläne sind infrage gestellt und auch die eigene Wertigkeit.“

Für sie hat sie den Glauben an Gott und die Nächstenliebe im Angebot, und zwar als Angebot gegen die eigene Verzweiflung. Hilfe zur Selbsthilfe einmal anders verstanden? Auch das ist polemisch, wie gesagt, sie meint es ja gut:

„Wer für andere Sorge trägt, kommt besser durch die Coronakrise. Die einen backen Plätzchen, die anderen schreiben Briefe, wieder andere hören zu oder besuchen sich auf einen Kaffee oder Spaziergang.“

„Glaube ist ein Resilienzfaktor, denn er erzeugt Dankbarkeit für das Gute und ist Kraftquelle für schwere Zeiten.“

Man sieht, es geht nicht um Opium für das Volk, es muss sich eher so etwas Ähnliches wie Psychotherapie handeln. Pastorale Leichenfledderei nach dem memento mori wird es ja nicht sein, das wäre dann doch zu polemisch. So lasst uns denn Plätzchen backen und fröhlich sein. Darüber, wie eine bessere Welt nach der Krise aussehen könnte, und ob wir wirklich hoffnungsvoll dahin aufbrechen wollen, müssen wir eben noch etwas nachdenken.

Kommentare (14)

  1. #1 rolak
    29. Dezember 2020

    Plätzchenbacken

    ..ist die korrekte Bezeichnung für die hamsterartige Gesichtsverformung nach dem Rein­stopfen von zu viel Kleingebäck, oder?

    (Da sind)*

    ..wie in so vielen ach so bemühten Bedauerungen von C-Krisen-Opfern keine an C Erkrankten gelistet, brachialer Ausdruck religiöser Weltfremdheit. Auch gerne geäußert in der eigentlich nur unverschämt zynisch zu nennenden Form ‘welch ein Schicksal für <hohe Zahl>, doch sehet Gottes unendliche Güte: Drei wurden wundersam gerettet!’
    Da sind die vielen absolut verkündeten Gewißheiten (‘Glaube ist eine Kraftquelle’) schon gar nicht mehr verwunderlich, denn der Übergang von ‘ich glaube, daß’ nach ‘es ist’ im Denken dürfte eine der solider belegten Nebenwirkungen von Glauben sein.
    Dicht neben ‘für mich gilt’⇒’für alle hat zu gelten’.

  2. #2 RainerO
    29. Dezember 2020

    Ich bin resilient ganz ohne Glauben. Im Gegenteil sehe ich im Gauben sogar eher ein Probem, wenn man sich zu fragen beginnt, wie {hier bitte die erfundene, höhere Entität der Wahl einfügen} dieses Leid durch das Virus nur zulassen konnte. Als naturwissenschaftsaffiner Atheist brauche ich kein Schicksal, oder eine Prüfung, oder was auch immer darin sehen. Ist halt so. Ist früher schon passiert, kann jederzeit wieder passieren.

  3. #3 frbr
    29. Dezember 2020

    Solche Artikel retten durch diese Zeit!

    Meine fünf Cent:
    “Vielleicht Opium für mich”? (Nicht für das Volk!)
    Denn:
    “Darüber, wie eine bessere Welt nach der Krise aussehen könnte,… müssen wir eben noch etwas nachdenken.”
    könnte auch lauten:
    ” Darüber, wie eine bessere Welt nach der Krise aussehen könnte,… muss ich dann nicht mehr nachdenken.”

  4. #4 rolak
    29. Dezember 2020

    sehe ich im Gauben sogar eher ein Probem

    Ach, in den Weiten der Varianten(Theodizee) stellten sich mir bisher (insbesondere professionelle) Gläubige als durchaus (formalideologisch) geschult dar; ~eine Idee des sich am Zweifel stärkenden Glaubens, was bis zu einem gewissen Grad sogar nachvollziehbar war&ist.

    Wenn ich allerdings belastbare Belege hätte, vielleicht sogar schon, wenn ich nur mir sicher wäre, frei von einer unterschwelligen ätsch-bätsch-Gehässigkeit zu spekulieren, hätte ich eben in dem rant sogar zwei Probleme gelistet: einerseits in festem Glauben die Tendenz, auch behebbare Mißstände stoisch als ~Prüfung hinzunehmen und dadurch evtl sogar zu verschlimmern, andererseits bei steigender Belastung die Gefahr der durch spontan wegbrechenden Glaubens ausgelösten, lähmenden Agonie.

  5. #5 Tim
    29. Dezember 2020

    Glaube bedeutet, schlechte Begründungen zu akzeptieren. Sicher keine gute Lösung für irgendwas.

  6. #6 Axel
    Kölle
    29. Dezember 2020

    Immer wieder gerne von religiös motivierten Menschen zitiert und meistens falsch interpretiert: “Opium fürs Volk”. Da ist Käßmann keine Ausnahme. Mich wundert nur das Jahr: 2020. Ich dachte man hätte unterdessen dazugelernt.

    Als ich das 1979 in der Schule von unserem Religionslehrer zum ersten mal hören musste, dachte ich mir schon, das da was aus dem Zusammenhang gerissen wurde. Deshalb habe ich mal nachgelesen, was wirklich gemeint war (was übrigens im Jahr 1979 gar nicht so einfach war):

    Im 19. Jahrhundert war Opium ein beliebtes Rauschmittel für die Vermögenden (https://paris1899.de/2014/03/21/laudanum-opium-und-sherlock-holmes-drogenmissbrauch-im-viktorianischen-england/
    Siehe auch A.C.Doyles “Sherlock Holmes – Der Mann mit der entstellten Lippe”. Auch wenn das natürlich ein fiktiver Roman ist, ist die Beschreibung der Opium Höhle die eines Zeitgenossen, der diese Etablissements kannte)

    Das gemeine Volk konnte sich diese Flucht aus der Realität aber nicht leisten und da es noch kein Kino und Fernsehen gab, mussten sie eine andere Fluchtmöglichkeit nutzen: die Religion, die versprach, das im nächsten Leben alles besser wird und ihre dadurch vorhandene Macht und ihren Einfluss nutzen konnte um die Arbeiter da zu halten wo sie waren: in den Elendsquartieren.

    Ich zitiere mal Wikipedia: Marx übernahm seine Formulierung in der Einleitung zu Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie 1844 möglicherweise von Heinrich Heine, den er 1843 kennengelernt hatte. Heine hatte 1840 eine Denkschrift für Ludwig Börne veröffentlicht, in der es sarkastisch heißt: „Heil einer Religion, die dem leidenden Menschengeschlecht in den bittern Kelch einige süße, einschläfernde Tropfen goss, geistiges Opium, einige Tropfen Liebe, Hoffnung und Glauben!“.

    • #7 Joseph Kuhn
      29. Dezember 2020

      @ Axel:

      Frau Käsmann hat Marx ja richtig zitiert. Man sollte ihr auch keine andere Lesart unterstellen, sie ist sicher selbst aufrichtig davon überzeugt, dass der Glaube hilft. Was er auch tut. Nach Marx um den Preis, dass man in einem Zustand verharrt, “der der Illusionen bedarf.”

      Nur: Was ist die Alternative? Was wäre der Zustand, der keine Religion als Opium erfordert, keine traditionelle, keine säkulare, ob Esoterik oder was auch immer? Darüber wird zu wenig gesprochen.

      In der Januarausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik moniert Albrecht von Lucke diese Leerstelle ebenfalls und verweist darauf, dass uns außer der Hoffnung auf Wirtschaftswachstum und mehr Konsum nach der Krise noch nicht viel einfällt: “Konsum wird hier – in bestechender Ehrlichkeit – zur eigentlichen und letzten nationalen Leitkultur.”

      Die Mehrheit hat sich scheinbar vorerst damit abgefunden, dass es dazu keine Alternative gibt, obwohl der Klimawandel jedem vor Augen führt, dass diese Geschichte kein gutes Ende nimmt. Das ist, wenn man so will, die Stunde der Religion und ihrer quergedachten Derivate als Opium des Volkes.

  7. #8 Tim
    29. Dezember 2020

    @ Joseph Kuhn

    Was wäre der Zustand, der keine Religion als Opium erfordert, keine traditionelle, keine säkulare, ob Esoterik oder was auch immer? Darüber wird zu wenig gesprochen.

    Streng genommen wird von fast nichts anderem gesprochen. Unser ganzer Alltag ist nichts anderes als permanente freie Sinnfindung ohne große ideologische Vorgaben.

  8. #9 Alisier
    29. Dezember 2020

    Ein mögliches Antidot gegen die Käsfrauen und -männer dieser Welt: “Die Wahrheit über Eva” von Carel van Schaik und Kai Michel.
    Gut geschrieben, kurzweilig, klug und inhaltsreich, so dass ich für die knapp 700 Seiten gerade mal drei Tage brauchte.
    Meine Neujahrsempfehlung.

  9. #10 rolak
    29. Dezember 2020

    Was wäre der Zustand, der keine Religion als Opium erfordert (..)?

    Vier Antwort-Varianten:
     - Scherzfrage→ Satori.
     - Suggestivfrage→ Ist ‘ohne’ derart unvorstellbar?
     - Sachfrage→ Ein Versuch des Lebens generell in der Realität.
     - Meinungsfrage→ Angenehm.

    • #11 Joseph Kuhn
      29. Dezember 2020

      @ rolak:

      In der Realität leben wir ja immer, auch wenn sie manchmal nur schwer auszuhalten ist. Aber wie sollten wir in 20 Jahren wirtschaften? Mit welchen Energiequellen? Welche Mobilität wollen wir haben? Welche Formen der sozialen Absicherung? Welche Standards des Datenschutzes? Wie soll gepflegt werden? Wie sollen sich demokratische Regeln erneuern und weiterentwickeln? Wie soll das Verhältnis zur Dritten Welt aussehen? Usw. usw.

  10. #12 rolak
    29. Dezember 2020

    immer

    Das gilt doch aber nur für die Physis, Realitätsfluchten, selbst die mit grobstofflichen Hilfsmitteln, werden im Reich der Psyche veranstaltet.

    ‘in 20’-Liste

    Für die gilt doch #2 in der Variante ‘ja brauchts denn dafür..’ – oder soll der Antrieb, gegen Ärgernisse auf ein funktionierendes und möglichst ungerechtigkeitsvermeidendes Zusammenleben hinzuarbeiten als religionsartig eingeordnet werden?
    Oder doch die prophetische Komponente von insbesondere transzendenten Ideologien, alternativ kalkulierte Zwangsläufigkeit (à la ‘Sturz der Bourgeoisherrschaft’)? Daß gewisse unerwünschte Zustände fürchterlich stabil scheinen, für bisher ungelöste Probleme noch keine Lösung existiert, einem jederzeit fiese Möppen in die Suppe spucken könnten – Ärgernisse, ja. Aber doch kein Grund, sich an etwas prinzipiell Realitätsfernes zu klammern.

    Falls mal gezeigt werden sollte, daß solch Streben sinnleer, fruchtlos und damit realitätsfern ist, dann mach ich halt was anderes, aber bis dahin…

  11. #13 hwied
    31. Dezember 2020

    Coronakrise und die Kirchen, ein guter Titel. Die Kirchen sind genauso hilflos wie die staatlichen Institutionen.
    Werfen wir einen Blick zurück ins 13. Jahrhundert. Damals wütete die Pest in Europa. Wie man jetzt vermuten könnte, wäre das eine Stärkung der damaligen Kirche gewesen. Weit gefehlt. Die Bischöfe und die Pfarrer starben genauso wie der einfache Bauer.
    Die Menschen erkannten die Grenzen der Kirche und die Renaissance war eine logische Folge.

    Wie mir ein Kirchendiener letzte Woche sagte, „in den Kirchen wird sich einiges ändern“.

  12. #14 nota.bene
    31. Dezember 2020

    Ich kenne aus meinem eigenen Umfeld einen Fall, wo die Religion die Resilienz erheblich gesteigert hat, und zwar als autosuggestive Psychothechnik: man steht vor einem schier unlösbaren Problem, bittet Gott um Hilfe und macht sich im Vertrauen auf seinen Beistand daran, das Problem zu lösen. Wenn man es dann aus eigener Kraft geschafft hat, schreibt man das in illusionärer Verkennung allein dem Wirken Gottes zu.