… lautet der Titel eines Buchs des britischen Mathematikers und Epidemiologen Adam Kucharski. Der Untertitel: „Was Pandemien, Börsencrashs und Fake News gemeinsam haben“.
Kucharski ist infektionsepidemiologischen Insidern z.B. durch Studien zu Influenza-Epidemien ein Begriff, aber im deutschen Sprachraum einer breiteren Öffentlichkeit bisher nicht bekannt. Wie es sich künftig mit dem Bekanntschaftsgrad seines Namens verhält, wie dessen Ausbreitungswege verlaufen, bleibt abzuwarten.
Auch den Namen Ronald Ross haben vermutlich viele hierzulande noch nie gehört. Ross war ein Pionier der Epidemiologie in Großbritannien. Kucharski beschreibt, wie Ross im 19. Jahrhundert das Ausbreitungsgeschehen der Malaria untersucht hat und dabei die Rolle der Moskitos als Überträger aufzeigen konnte. Ross gab mit seinen Überlegungen auch den Anstoß für die Entwicklung des SIR-Modells, von dem im Zuge der Corona-Epidemie vermutlich inzwischen die meisten einmal gehört haben. Die bekannten Modellierungen zur Entwicklung der Fallzahlen beruhen auf diesem Modell, das in einfachen Differentialgleichungen den Übergang von den Empfänglichen („susceptible“) zu den Infizierten („infected“) bis zu den Geheilten bzw. Gestorbenen („removed“) beschreibt.
Kucharski erzählt zunächst die Geschichte der Infektionsepidemiologie, oder vielleicht besser der Mathematik in der Infektionsepidemiologie, in einer formelfreien und doch höchst informativen Weise. Wie der Untertitel des Buches ankündigt, kommt er dann auf die Übertragbarkeit des „Ansteckungsdenkens“ auf andere gesellschaftliche Phänomene. Im Gesundheitsbereich hat z.B. vor einigen Jahren eine Studie zur Verbreitung der Adipositas über Freundschaftsnetzwerke viel Aufsehen erregt. Das Aufsehen, das diese Studie erregt hat, wäre vermutlich selbst auch gut mit epidemiologischen Ausbreitungsmodellen zu beschreiben: Erst eine Welle der Rezeption bis hin zu den Massenmedien, dann Kritik, dann Verstummen.
Andere Beispiele, die Kucharski ausführlicher vorstellt, sind etwa Analysen zum Ansteckungsrisiko im Finanzsektor. Er berichtet, wie die Pleite von Lehman Brothers epidemiologischen Methoden im Zusammenhang mit Finanzmarktkrisen den Weg gebahnt hat. Oder Nachahmungstaten bei Suiziden und Amokläufen. In Deutschland gibt es für das Auftreten von Folgesuiziden sogar einen literarisch inspirierten Begriff: den „Werther-Effekt“. Wenn Amokläufe, oder zumindest bestimmte Amokläufe, nach dem Ansteckungsmodell zu verstehen sind, ist das übrigens ein starkes Argument gegen die Behauptungen der Waffenlobby, gegen einen bösen Mann mit Waffe helfe nur ein guter Mann mit Waffe. Waffen wirken sicher gleich auf mehrere Bestimmungsfaktoren des R-Werts (Dauer der Infektiosität, Übertragungsgelegenheiten, Übertragungswahrscheinlichkeit und Empfänglichkeit). Prävention muss dann woanders ansetzen, z.B. an den gefährdeten Personen, infektiologisch gesprochen den „Indexfällen“.
Wo Kucharski sonst noch überall das Gesetz der Ansteckung am Werk sieht, möge jeder selbst nachlesen. Nur ein Punkt sei noch angesprochen: Wenn man Viren als kleine Informationspakete betrachtet, liegt es nicht fern, auch die Verbreitung von anders verpackten Informationen einmal als Ansteckungsphänomen durchzuspielen. Kucharski hat auch hier mehrere Beispiele. Unter anderem diskutiert er den „Backfire-Effekt“ infektiologisch. Diesen Effekt kennen viele, die sich mit Fake News beschäftigen. Es geht dabei darum, dass unter bestimmten Bedingungen die Widerlegung falscher Ansichten paradoxerweise zu einer kognitiven Verfestigung eben jeder falschen Ansichten führen kann. Wenn man so will, wird dadurch die Ausbreitung der korrekten Information, die eigentlich ansteckend sein sollte, behindert. Aber auch das hängt sehr von der konkreten Situation ab, in vielen Fällen ist die Wahrheit wirklich ansteckend und, wenn man so will, der R-Wert der korrekten Information größer als 1.
Ich will die Wortspiele jetzt nicht übertreiben, aber dieses Buch steckt mit Leselust an. Es ist kein Lehrbuch, aber man lernt viel, es ist kein Roman, aber spannend geschrieben, es ist keine Reportage, aber gespickt mit Beobachtungen über historische und aktuelle Ereignisse. Man kann natürlich überlegen, wie weit das Ansteckungsmodell trägt, wo seine theoretischen Grenzen sind, wie das Verhältnis zu funktional ähnlichen Konzepten wie z.B. dem Nudging zu explizieren wäre oder ob man z.B. den Gebrauch der Vernunft damit angemessen beschreiben kann. No law fits everything. Leser/innen aus dem Robert Koch-Institut mögen bitte auch darüber hinwegsehen, dass Kucharski Robert Koch als „Biologen“ bezeichnet. Vielleicht nur ein Übersetzungsfehler, sozusagen eine Mutation im Laufe der Informationsübertragung.
Das Buch kostet 26 Euro und ist 2020 im Hirzel-Verlag erschienen, ein kleiner Verlag, der immer wieder mit interessanten Büchern jenseits des populärwissenschaftlichen Mainstreams auffällt. Kaufempfehlung: Ja, unbedingt!
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