… war ein SPIEGEL-Artikel 2016 überschrieben, noch vor der Wahl Trumps. Der Artikel fokussierte auf die USA, und auch viele politische Kommentare der letzten Tage zu den Ereignissen am Kapitol in Washington tun dies. Aber die Krise der vielbeschworenen „Werte des Westens“ ist global und ihr Problem sind nicht nur enthemmte Randalierer in Washington oder vor dem Berliner Reichstag.
Wie manche den christlichen Glauben, so haben vielleicht zu viele auch die Demokratie zu einem Lippenbekenntnis werden lassen, zu einer bloßen Verfahrenstechnik des unblutigen Zugangs zur Macht, mit einem Verständnis von Parteiprogrammen als Marketingpapieren im Wettbewerb um die Stimmkunden. Die politische Rhetorik ist darüber hohl geworden, wenn man ansonsten zusieht, wie Konzerne in großem Stil betrügen, von den Autofirmen bei den Abgasen bis zu den Banken bei Geldwäsche und Cum-Ex-Geschäften, wenn man es hinnimmt, dass tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrinken oder unter unmenschlichen Bedingungen in griechischen Lagern dahinvegetieren, wenn man aus „realpolitischer Verantwortung“ mit Tyrannen am Festbankett sitzt und ihnen zuprostet, wenn man wider besseres Wissen in einer Endlosschleife das neoliberale Lied abspielt, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied und Leistung bestimme, wo man im Leben stehe.
Der Neoliberalismus hat den Eigennutz und die Rücksichtslosigkeit vergöttert, angefangen vom fiktiven Menschenbild des homo oeconomicus, des „rationalen Dummkopfes“, wie es der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen auf den Punkt brachte, bis hin zur Absage an jeden Anspruch einer gerechten Gesellschaft. Wie auch: „There’s no such thing as society“, erklärte Margret Thatcher 1987. Von der christlichen Nächstenliebe blieb da nicht viel mehr als die Botschaft, dass sich jeder selbst der Nächste ist. Seit Jahren setzen sich die Börsenwerte als wahre Werte des Westens in Szene. In den Medien, in den Nachrichten, sind sie täglich präsent, zusammen mit den Fussballergebnissen für die, die nicht an der Börse spielen können.
Die Glaubhaftigkeit und Attraktivität der Demokratie beruht aber nicht nur darauf, dass die Wirtschaft und eine Machtwechselmechanik ohne Köpfe-Rollen funktionieren. Demokratie ist das gemeinsame Bemühen um ein besseres Leben, d.h. dass es in den Augen aller um das Wohl aller geht. Oder „auch“ um das Wohl aller, man muss nicht weltfremd sein. Die Augen aller sind dabei trotz Fake News-Medien schärfer geworden als früher, der Blick hinter die Kulissen ist einfacher geworden, und die Kulissen vielleicht auch fadenscheiniger. Der realpolitische Zynismus in der „westlichen Wertegemeinschaft“ ist jedenfalls unübersehbar, und diesen Zynismus sehen auch die autoritären Machthaber in China, Russland oder Saudi-Arabien – samt der Bevölkerung dort.
Der Westen als Vorbild für Demokratie, Wohlstand und Gerechtigkeit? Darüber hat sich ein dicker Firn gelegt. Hatte Willy Brandt noch eine Idee einer besseren Gesellschaft, als er „mehr Demokratie wagen“ wollte, um die Verkrustungen der Nachkriegszeit aufzubrechen, von Bildungsreformen über Mitbestimmung in der Wirtschaft bis hin zu mehr Frauenrechten, so wusste schon der Autokanzler Schröder mit Demokratie nicht mehr viel zu verbinden. „Modern“ müsse Wirtschaftspolitik sein, basta. Demokratie? Ihm ist Putin ein „lupenreiner Demokrat“. Welche Vorbildfunktion sollte demgegenüber der Westen also noch einnehmen? Zumal, wenn autoritäre Regime zeigen, dass sie effizient handeln können. Dass sie gleichzeitig ausnahmslos auch korrupt sind, macht sie uns in manchen Augen nur etwas gleicher. So droht nach der Hybris des Eigennutzes der Sirenengesang des Autoritarismus, des Populismus, im Extremfall des Faschismus. Nur der Hungerkommunismus Nordkoreas hat außer Trump („we fell in love“) noch keine neuen Freunde gefunden.
Die Demokratie ist erschöpft und sie braucht eine Erfrischungskur. Die Frage, „was tun?“ sollte man dabei weder Lenin noch Trump überlassen. Gute Ansätze gibt es schließlich bei uns durchaus. Wir schaffen das. Hoffentlich.
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