Die Grüne Annalena Baerbock war sicher nicht so naiv, davon auszugehen, dass der Honeymoon mit den Medien bis zum Wahltag anhält. Schließlich geht es um die Macht und da ist manchen Leuten jedes Mittel recht. Die Welle der Fake-News um Baerbocks Person und ihre Qualifikation zeugt davon. Wie gesagt, dass der Wind rauh wird, davon ging sie vermutlich aus. Was man auch immer an Kritik an ihr haben mag, dumm ist sie nicht.
Auch wenn der politische Gegner im Kampf um die Macht keinen Spaß versteht, ist manches kabarettreif. Da schreibt Baerbock die soziale Marktwirtschaft in den 60er Jahren der SPD zu. Passt nicht. Wobei man schon fragen könnte, wie viel soziale Marktwirtschaft Union und FDP nach dem Krieg wirklich umgesetzt haben und was eher restaurative Abwehr christlich-sozialistischer Ideen war. Vieles von dem, was wir heute für typisch soziale Marktwirtschaft halten, z.B. das Mitbestimmungsgesetz oder die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten in wichtigen sozialrechtlichen Bereichen, kam tatsächlich erst mit der SPD.
Aber ich will Baerbocks Bock gar nicht wegreden. Sie hat sich den Fettnapf selbst hingestellt und ist mit Schwung hineingetreten. Nur dass sich ausgerechnet Friedrich Merz kurz nach seinem eigenen Fettnapfbad mit der Liquiditätsfalle dazu schulmeisterlich äußern muss, hat mehr von Komik als von Chuzpe. Merz kennt den Unionsmythos, dass Ludwig Erhard der geistige Vater des Konzepts gewesen sein soll. Das muss er ihr natürlich vorhalten: “Man spürt und hört an der ein oder anderen Stelle doch, dass sie nicht wirklich trittfest ist”, und damit jeder das das unglaubliche Kompetenzgefälle sieht: “Das ist schon ein ziemlicher Hammer”.
Erhard also? Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ wird Alfred Müller-Armack 1946/47 zugeschrieben, die Konzeption selbst geht weiter zurück. Der Historiker Manfred Görtemaker (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1999, 152) erläutert Erhards Rolle:
„Die Grundgedanken waren (…) schon zu Beginn der dreißiger Jahre entwickelt worden. Erhard selbst hatte dazu keinen Beitrag geleistet, sondern rezipierte erst nach 1945 in den Diskussionen des Münchner Abendkreises um Adolf Weber die Thesen der ‚Freiburger Schule‘ um Walter Eucken, Leonhard Miksch und Franz Böhm (…).“
Ludwig Erhard war, so Görtemaker, ungeeignet für eine wissenschaftliche Karriere. Er hat zunächst Karriere unter den Nazis gemacht. 1933 wurde er Mitglied der Geschäftsführung des Instituts für Wirtschaftsbeobachtung und 1934 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Konsumforschung (Görtemaker, 142). Allerdings setzte er sich bereits damals mit dem Spannungsfeld von Staat und Markt auseinander, der Zeit entsprechend noch für Wirtschaftslenkung eintretend. Gefördert wurde Erhard von der „Reichsgruppe Industrie“, deren Hauptgeschäftsführer Karl Guth war Erhards Schwager (Görtemaker, 143). Nach dem Krieg wuchs mit Erhard und der Freiburger Schule in gewisser Weise zusammen, was zusammenpasste. Eine freie Wirtschaft mit sozialen Sicherungen war nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft eine attraktive Perspektive, auch wenn in der Realität vieles bis heute Stückwerk geblieben ist und nicht zuletzt unter dem Einfluss von Neoliberalen wie Merz so manches wieder rückabgewickelt wurde.
Bei Friedrich Merz spürt und hört man an der ein oder anderen Stelle halt doch auch, dass er nicht wirklich trittfest ist.
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Nachtrag 16.5.2021, zum Weiterlesen: “70 Jahre ‘soziale Marktwirtschaft’. Die Ironie der Geschichte”
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