„Eine Ohrfeige hat noch niemandem geschadet“ – den Spruch kennt vermutlich jeder. Damit wurde seit jeher Gewalt in der Erziehung gerechtfertigt. Der Spruch kommentiert ja nicht eine einmalige Überforderungsreaktion („eine“ Ohrfeige), für die man sich zudem beim Kind entschuldigen sollte, sondern einen Erziehungsstil, bei dem der Wille der Eltern brachial gegen das Kind durchgesetzt wird.
Das mag aus der Sicht konservativer Erziehungslehren durchaus „funktionieren“, d.h. das Kind wird eingeschüchtert und auf Spur gebracht. Aber Gewalt ist kein legitimes Erziehungsmittel. Die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet in Art. 19 die Vertragsstaaten ausdrücklich, hier ein Wächteramt zugunsten der Kinder wahrzunehmen:
„Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.“
In der Realität wird dieser zivilisatorische Grundstandard bekanntlich nur allzu häufig missachtet. Besonders perfide ist es, wenn diese Missachtung im Gewande medizinischer Hilfe daherkommt. Vor gut einem Jahr wurde hier die „Elternschule“ in Gelsenkirchen diskutiert, einem verhaltenstherapeutischen Ansatz zum Brechen des Kinderwillens. Jetzt geht der Fall des Kinderpsychiaters Michael Winterhoff durch die Medien. Winterhoff ist Bestseller-Autor für Erziehungsratgeber. Bekannt geworden ist er u.a. durch sein Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, das sich mehrere hunderttausend mal verkauft hat. Seine Ausgangsthese ist, dass es in manchen Familien zu einer Machtumkehr käme und die Kinder ihre Eltern manipulieren und steuern. Schon diese Ausgangsthese ist heikel, weil sie leicht so gelesen wird, dass Macht die bestimmende Beziehungsstruktur zwischen Eltern und Kindern ist und dass Macht in die Hände der Eltern bzw. der Betreuungspersonen gehört.
In den aktuellen Medienberichten geht es darum, dass Winterhoff diesen Machtbeziehungen bei seinen kleinen Patient/innen wohl auch medikamentös und ohne die gebotene Indikation nachgeholfen hat, unter den Augen der zuständigen Jugendämter.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Kinderpsychiatrie ist ein hochgradig notwendiger und hilfreicher Versorgungsbereich – mit viel zu wenig Fachärzt/innen. Im niedergelassenen Bereich gab es 2020 gerade einmal 1.149 Kinder- und Jugendpsychiater in der vertragsärztlichen Versorgung – bei ca. 180.000 Ärzt/innen und Psychotherapeut/innen in der vertragsärztlichen Versorgung insgesamt. Immerhin nimmt ihre Zahl seit Jahren stetig zu.
Dass es unter Kinder- und Jugendpsychiatern auch zweifelhafte Figuren gibt, mit zweifelhaften Behandlungsmethoden, unterscheidet dieses Fachgebiet nicht von anderen Fachgebieten. Der „Fall Winterhoff“ erregt auch nicht als Einzelfall die Aufmerksamkeit der Medien, sondern aufgrund des Einflusses, den er mit seinen Büchern hat und seiner Rolle in der Region, in der er tätig ist. Er betreut dort, wie die Süddeutsche Zeitung schreibt, Kinder und Jugendliche „in etwa 20 bis 30 verschiedenen Pflegefamilien oder größeren Einrichtungen der Jugendhilfe“. Da ist das staatliche Wächteramt in besonderer Weise gefragt, ebenso wie sich einmal mehr Fragen an das Selbstverständnis der Psychiatrie zwischen Unterstützung und Kontrolle stellen.
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